Der erste Sommer
kein Mensch einen Film. Nicht einmal in Amerika.«
»Ich muss wissen, warum sie sich umgebracht hat«, murmelte Martin.
Schwartz nickte, er hatte es von Anfang an geahnt. » Und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes. Auf die Liebe läuft es am Ende immer hinaus. Man kann in diesem Punkt nur von der Oper lernen. Aber lassen Sie sich einen Rat geben: Man kann in keinen Menschen hineinschauen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Und nun auf Wiedersehen.«
Er schlug mit der linken Hand Akkorde an und hörte so lange nicht damit auf, bis Martin das Zimmer verlassen hatte. Von seiner Fensterluke aus beobachtete Schwartz, wie der Amerikaner auf die Maximilianstraße trat. Verzaubert sah er ihn in seiner knapp sitzenden Uniform auf der Fahrbahnmitte stehen bleiben.
Der Studienleiter musste schlucken. Wie Lohengrin steht er da, bevor der Schwan ihn zurückholt, schön wie gefallenes Laub, dachte er, als das Klingeln der Straßenbahn Martin zusammenfahren ließ. Auch Schwartz zuckte zusammen. »Armer Ritter«, murmelte er halblaut zu sich selbst, »hoffentlich erlebst du keine Enttäuschung.«
Er setzte sich an den Flügel und spielte mit geschlossenen Augen Elsas Traumerzählung. Einsam in trüben Tagen …
42
Aufgeregt hielt Ewald die große Schere wie ein Schwert in die Höhe. Sophie saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und presste die Lippen aufeinander. Langsam nickte sie ihm zu. Er setzte die Schere an, drückte sie zusammen. Aber er schaffte es nicht.
»Nimm beide Hände!«, befahl Sophie.
Ewald presste die Schere mit aller Kraft zusammen. Langsamgab der Widerstand nach. Wie eine Schlange glitt Sophies Zopf über die Rückenlehne des Sofas. Sie schrie auf. Ewald hob ihn auf und hielt ihn triumphierend in die Höhe und überreichte ihn feierlich an Sophie. Mit einem Band umwickelte sie die Haare und verstaute sie in einem Schuhkarton, den sie in eine der inzwischen leeren Vitrinen stellte.
»So, nun haben wir wieder für ein paar Wochen zu essen, wenn Ferdinand genug Geld dafür bekommt. Danke, Ewald.«
Er freute sich, dass er endlich auch einmal nützlich gewesen war.
»Und jetzt geh und frag deine Schwester, ob sie heute etwas essen will«, bat sie ihn. »Ferdinand macht sich Sorgen um sie. Und ich auch.«
Warum schickten sie immer ihn vor? Nur weil es in dem Zimmer so entsetzlich stank nach dem »Unglück«, wie Sophie es nannte. Dabei hatte Ferdinand die Matratze am selben Morgen noch in den Garten geworfen, wo Sophie sie stundenlang mit Seife abgebürstet hatte. Seine Schwester brauchte ihm gegenüber jedenfalls nie mehr so tun, als wäre sie erwachsen. Nur weil man krank war, musste man nicht gleich ins Bett machen.
Katharina sah elend aus. Ihre Augen waren geschwollen, ihr Gesicht fiebrig aufgedunsen. Ewald setzte sich ans Fußende des Bettes und blätterte in ihrem Buch, das er ihr gestern wieder gebracht hatte. Sie hatte es kein einziges Mal angefasst.
»Geh und hol Blumen, während ich mich umziehe«, flötete sie. In ihrer Stimme war eine beunruhigende Milde. Folgsam stand Ewald auf und ging auf den Balkon. Er zählte dreimal bis fünf und kam wieder herein.
»Es gibt keine Blumen mehr.«
Katharina stand zitternd vor dem Wandschrank. Sie trug nur Unterwäsche. An den Oberschenkeln hatte sie blaue Flecken. Und das Höschen war so dreckig, dass Ewald wegsehen musste. Sie drehte sich um und rief erschreckt:
»Papa!«
Warum nahm er sie nicht in die Arme und sagte: »Na, junges Fräulein, wo fehlt es uns denn?« So, wie er es tat, als sie noch ein Kind war. Bis zu dem Tag, an dem Ewald geboren wurde. Sie wusste auch, warum das so war. Weil sie das Tagebuch ihrer Mutter gelesen hatte, das diese aus der zerstörten Wohnung gerettet hatte …
Ewald setzte sich auf seinen Platz am Fußende des Bettes. Katharina schwankte, mit dem Fuß stieß sie an eines der leeren Parfumfläschchen, die auf dem Boden lagen. Sie kroch zurück ins Bett, bemerkte ihren Bruder und robbte zu ihm. Sie legte ihren Kopf auf seine Beine und flüsterte:
»Was erlauben Sie sich! Ich bin eine Witwe!«
43
Anne schleppte in jeder Hand eine Tasche mit Holz, meist kleinereÄste, die der Sturm der vergangenen Nacht heruntergerissen hatte. Die Riemen des Rucksacks schnitten ihr in die Schulter. Bei jedem Schritt schwankte sie. Keuchend summte sie: » Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. «
Vor dem Eingang zu ihrem Wohnhaus stand rauchend der Hausmeister und sah ihr stumpfsinnig entgegen.
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