Der erste Tropfen Blut: Thriller (German Edition)
breiteten die Ausdrucke mit den Infos der Tayside Police auf dem Konzertflügel im Orchestergraben aus: Blutuntersuchung, Arztberichte, Vorher-Nachher-Fotos des Opfers und ein undeutliches Phantombild des Täters. Es hätte jeder sein können.
»Nikki Bruce, dreiundzwanzig. War auf dem Heimweg nach einem Abend mit Freunden in der Stadt. Vor dem Nachtclub hat sie sich übergeben müssen, und der Taxifahrer hat sich geweigert, sie zu fahren. Daraufhin ist sie allein zu Fuß die Broughty Ferry Road entlanggegangen. Und da hat er sie überfallen.«
Der Inspector starrte finster die Fotos an – vorher war Nikki eine gut aussehende junge Frau mit strahlenden Augen und schelmischem Lächeln gewesen. Auf dem »Nachher«-Bild war sie kaum wiederzuerkennen: ein Auge zugeschwollen, das andere ganz rot von geplatzten Blutgefäßen, die Nase plattgedrückt und leicht unsymmetrisch, der Mund schief, mit geschwollenen, aufgeplatzten Lippen. Drei oder vier Zähne fehlten, das ganze Gesicht war mit Verbänden, Pflastern und blauen Flecken bedeckt. Schwer zu glauben, dass es ein und dieselbe Person war.
»Und wo«, fragte Insch, »war Macintyre zum Tatzeitpunkt?«
»Ich dachte, der ist nicht mehr verdächtig.«
Ein bedrohliches Grollen stieg aus den Tiefen von Inschs Kehle auf. »Pah, von wegen.« Er zückte sein Handy und rief die Staatsanwaltschaft an, um die Ausstellung eines Haftbefehls für Macintyre zu fordern. Wie es schien, hatte er damit wenig Erfolg. »Nein … nein … er ist … Natürlich ist er es! Das ist sein Modus Operandi, er ist … Nein, haben wir nicht … aber …« Er legte seine massige Pranke auf den Stoß Papiere und knüllte ein paar davon zusammen. »Ja, verstehe … nein … schon klar. Danke für Ihre Bemühungen.« Insch legte auf, schob das Handy behutsam in die Tasche zurück und feuerte die zusammengeknüllten Ausdrucke auf die Bühne. » MIST, VERDAMMTER !« Die Papiere flatterten einen Moment lang weiß im Schein des Rampenlichts und fielen dann auf den grau gestrichenen Bühnenboden. Ein paar segelten hinunter in den Orchestergraben. Logan hielt die Luft an und wartete darauf, dass der Inspector seine Wut an ihm ausließ.
Stattdessen verzog Insch das Gesicht, legte zwei Finger an die pochende Ader an der Seite seines Halses und atmete zischend durch die Nase ein und aus. Das Zittern ließ nach, Inschs Atem normalisierte sich, und sein Gesicht verlor nach und nach seine dunkellila Färbung.
»Ähm …« Logan wusste, dass er die Frage wahrscheinlich gleich bereuen würde, »geht es Ihnen gut, Sir?«
»Die Staatsanwältin«, sagte Insch mit verstörend ruhiger Stimme, »ist der Ansicht, dass wir Macintyre in Ermangelung konkreter Beweise, die ihn mit der Vergewaltigung in Verbindung bringen, nicht zur Vernehmung aufs Revier beordern können, da das sonst nach Schikane aussehen könnte. Wenn wir mit ihm reden wollten, müssten wir schon zu ihm hinfahren und höflich fragen.« Seine zur Schau getragene Gelassenheit geriet ein klein wenig ins Wanken. »Aber jetzt brauche ich erst mal was zu trinken.«
Ein Streifenwagen raste auf der Broad Street vorüber, als Logan hinter der massigen Gestalt des Inspectors die steile Treppe zur Kellerbar des Illicit Still hinunterstieg. Sie hatten am Präsidium vorbeigehen müssen, um hierherzugelangen, Insch in brütendem Schweigen versunken, während Logan sich bemüht hatte, die zerknitterten Dokumente zu glätten und wieder halbwegs zu ordnen. Das Pub war ungefähr gleich weit vom Präsidium entfernt wie das Archibald Simpson’s, aber hier wimmelte es nicht so von Polizisten außer Dienst, weshalb Insch es für das gesellige Beisammensein nach der Probe ausgewählt hatte. Die Inneneinrichtung sah aus, als hätte sich jemand mit einem krankhaften Geländerfimmel ausgetobt – die Dinger waren überall, und sie teilten das Lokal in lauter kleine Sitzbereiche auf, alle voll besetzt mit Studenten und Leuten mit coolen Frisuren.
Logan folgte Insch zur Theke. »Was wollen Sie denn nun wegen Macintyre unternehmen?«, fragte er, während der Inspector ihre Getränke bestellte und den Barmann anschließend noch Chips und Erdnüsse holen schickte.
»Wir statten ihm einen Besuch ab. Lächeln freundlich. Stellen unsere Fragen. Und überlegen uns, wie wir den hässlichen kleinen Scheißkerl doch noch drankriegen können. Mal sehen, ob wir vom Stellvertretenden eine Genehmigung für eine bescheiden angelegte Observierungsaktion kriegen. Früher oder später wird
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