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Der erste Verdacht

Der erste Verdacht

Titel: Der erste Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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konzentrierte sie sich auf das Türschloss. Es wirkte altmodisch und stabil, und als Irene durch das Schlüsselloch schaute, sah sie, dass der Schlüssel steckte.
    Irene scherzte immer, dass sich das Meiste mit Gewalt lösen ließe, aber hinter diesen Worten hatte sich jeweils ein gewisser Ernst verborgen. Jetzt setzte sie einen kleinen Schritt zurück und trat dann so fest wie möglich gegen das Schloss. Beim dritten Tritt gab die Tür nach. Mit einem splitternden Krachen flog sie auf, und sie stürzte nach draußen.
    Irene fand Kajsa auf der Schwelle zwischen Wohnzimmer und Flur. Sie lag auf dem Rücken, ihr Kopf in einer Blutlache, die rasch größer wurde. Blut strömte aus einer offenen Wunde an der Schläfe. Umständlich nahm Irene ihren Rucksack ab, zog ihr Reserve-T-Shirt heraus und drückte es fest auf die Wunde. Erleichtert vernahm sie ein leises Jammern aus Kajsas Mund. Diese versuchte, den Kopf zu schütteln, hielt dann aber abrupt inne. Offensichtlich war sie wieder ohnmächtig geworden.
    Fieberhaft dachte Irene nach. Ihr rechter Arm war immer noch so gut wie unbrauchbar. Sie würde gezwungen sein, das T-Shirt, das sie auf Kajsas Wunde drückte, loszulassen, aber das ließ sich nicht ändern. Kurz entschlossen öffnete sie das Außenfach ihres Rucksacks und fischte ihr Handy heraus. Sie drückte auf die Schnellwahltaste, bis die Nummer erschien, die sie brauchte. Sie beglückwünschte sich zu dem Einfall, alle Nummern mit Ländervorwahl abzuspeichern. Damit hatte sie nach einer Ermittlung in Kopenhagen vor einigen Jahren begonnen. Mit einem Seufzer der Erleichterung drückte sie die Taste und hoffte inständig, dass die Person, die sie erreichen wollte, auch abhob. Ihr Herz machte einen Freudensprung, als eine wohlbekannte Stimme sagte: »Inspektorin Birgitta Moberg-Rauhala.«
    »Hallo, Birgitta. Hier ist Irene. Kennst du die französische Notrufnummer?«

KAPITEL 10
    Inspektor Verdier besaß kalte, graublaue, dicht stehende Augen über einer schmalen Nasenwurzel. Das dünne, graumelierte Haar hatte er wenig kleidsam schräg gescheitelt. Er trug einen hellbeigen Trenchcoat und darunter einen makellosen grauen Anzug und schien trotz der Wärme nicht zu schwitzen. Irene fühlte sich an eine Figur aus den Ture-Sventon-Büchern ihrer Kindheit erinnert. Der Unterschied zu der Geschichte bestand darin, dass in der krassen Wirklichkeit der Pariser Notaufnahme der Polizist aussah wie der Schurke Ville Vessla. Er war eingetroffen, noch während man Irene und Kajsa untersucht hatte. Geduldig hatte er gewartet, als man Irene zum Röntgen ihres Ellbogens geschoben hatte, und er hatte es auch nicht eilig gehabt, als der kräftig verstauchte Arm in eine passende Schlinge gehängt worden war. Irene hatte mit Erleichterung vernommen, dass nichts gebrochen war. Der dunkelhäutige Arzt mit den müden Augen schrieb etwas Unbegreifliches auf einen Rezeptblock und ermahnte sie dann in holprigem Englisch, dreimal täglich zwei Tabletten mit viel Wasser einzunehmen. Irene nickte und versuchte, auszusehen wie eine gehorsame Patientin. Sie fragte nach dem Befinden von Kajsa Birgersdotter, aber der Arzt zuckte mit den Achseln und meinte bedauernd: »Not my patient.«
    Danach rauschte er zur Tür hinaus, und Inspektor Verdier folgte ihm. Nach wenigen Minuten kam der Inspektor zurück.
    »Ihre Kollegin hat eine Gehirnerschütterung. Sie muss noch bis morgen zur Beobachtung hier bleiben«, sagte er in gutem Englisch, aber mit einem ausgeprägten französischen Akzent.
    Seine Stimme klang nicht im Geringsten bedauernd. Es handelte sich um eine trockene Feststellung. Irene hatte den Verdacht, dass man ihn geschickt hatte, weil er Englisch sprach und nicht etwa wegen seiner mitfühlenden Art oder sozialen Kompetenz.
    »Mir wäre es recht, wenn Sie mich zum Dezernat begleiten würden und dort zu Protokoll geben könnten, was vorgefallen ist«, fuhr Verdier fort.
    In seiner Miene war nicht die leiseste Spur von Neugier zu erkennen, nur eine kühle, ausdruckslose Höflichkeit. Ehe Irene ihm noch antworten konnte, wurde das kleine Behandlungszimmer von den mächtigen Klängen der französischen Nationalhymne erfüllt. Irene schaffte es, ihr Handy aus dem Rucksack zu ziehen und dranzugehen.
    »Wie geht’s?«, ließ sich Birgittas Stimme vernehmen.
    »Gut. Oder eigentlich nicht … Kajsa hat eine Gehirnerschütterung und muss zur Beobachtung eine Nacht in der Klinik bleiben. Mein Ellbogen war nicht gebrochen, aber … du, ich ruf dich

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