Der erste Verdacht
Recht wenig. Sie redeten nur selten über Liebe und Sex in ihrem eigenen Leben, was wenig verwunderte. Schließlich waren sie beide seit etlichen Jahren verheiratet und hatten Kinder. Die Familien trafen sich oft, und Tommys Frau war Irenes beste Freundin. Eine Affäre oder eine eventuelle Scheidung von Tommy und Agneta würde auch für Irene Folgen haben.
Sie blieben vor der Haustür stehen und lasen die ordentlichen Namensschilder aus funkelndem Messing. J. Rothstaahl wohnte im fünften Stock. Irene nahm den Schlüssel aus der Innentasche ihres Rucksacks. Sie steckte ihn ins Schloss, und die schwere Tür glitt auf. Die Scharniere quietschten.
Das Entrée war in nüchternem Weiß gestrichen und wirkte sauber und ordentlich. Ein schwacher Duft von Putzmittel lag in der Luft.
»Kein Fahrstuhl«, stellte Irene fest und begann, die Treppen hochzusteigen.
Kajsa folgte ihr schweigend. Hinter einigen Wohnungstüren waren Stimmen und Musik zu hören, aber sonst herrschte vollkommene Stille.
Vom obersten Treppenabsatz gingen drei Türen ab. Auf einer stand »J. Rothstaahl«. Irene fiel auf, dass es keinen Zettel gab, der über einen Untermieter namens P. Bergman informiert hätte.
Sie drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete. Auf dem Fußboden hinter der Tür lag ein großer Stapel Post, überwiegend Reklame. Der Flur war recht eng und nur mit einem älteren Spiegel plus passender Kommode möbliert. Irene stellte fest, dass es in der Wohnung nicht sonderlich muffig roch. Das war bemerkenswert, da seit anderthalb Wochen niemand mehr in der Wohnung gewesen sein konnte. Vielleicht lag es ja daran, dass Türen und Fenster in alten Häusern nicht sonderlich dicht schlossen.
»Wir teilen die Zimmer auf«, sagte sie.
Kajsa nickte und verschwand durch eine der offenen Türen in die Küche. Irene öffnete die Tür, vor der sie stand: ein kleines Bad mit Dusche. Es roch deutlich nach teurem Rasierwasser und Herrenparfüm. Auf dem Bord vor dem Spiegel stand ein kleines schwarzes Necessaire. Im Übrigen gab es in dem kleinen Raum nichts von Interesse. Irene ging zurück in den Flur und betrat von dort aus das nächste Zimmer. Ein geräumiges Schlafzimmer mit einem extra breiten Doppelbett, auf dem eine schöne weißblaue Tagesdecke lag. Vor den hohen Fenstern hingen lange Gardinen aus demselben Stoff. Der Holzfußboden war sorgfältig abgeschliffen und lackiert. Auch hier war der Duft von Herrenparfüm durchdringend. Merkwürdig, dass er so deutlich war … Sie öffnete eine Tür, die, wie sie vermutet hatte, in eine große Kleiderkammer führte.
Der Stoß überrumpelte sie total. Er war so kräftig, dass sie den Halt verlor und kopfüber in die Kleiderkammer flog. Dass sie stundenlang Falltechniken geübt hatte, bewahrte sie davor, mit dem Kopf gegen die Rückwand zu knallen. Es gelang ihr gerade noch, ihren Arm hochzureißen und damit den Fall abzufangen. Im gleichen Moment hörte sie, wie die Tür zugeworfen und der Schlüssel umgedreht wurde. Um sie herum war es stockfinster.
Ein durchdringender Schmerz strahlte von ihrem rechten Ellbogen in den ganzen Arm aus. Er fühlte sich gelähmt an. Sie versuchte, die Hand zu bewegen, aber sie gehorchte ihr nicht. Vor Schmerzen stöhnend, begann sie sich aufzurichten, da ließ ein Geräusch sie erstarren. Durch die dicke Holztür hörte sie deutlich Kajsas Stimme: »Wa …? Neiiin!«
Zwei schwere Schläge, dann blieb lange alles still. Irene lauschte intensiv nach Geräuschen von draußen, hörte aber nur ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen und pochen. Was war mit Kajsa? Befand sich der Angreifer noch in der Wohnung? Wie eine Antwort hörte Irene rasche Schritte, die sich zu ihrer Erleichterung entfernten. Erst als die Wohnungstür ins Schloss schlug, fiel ihr auf, dass sie den Atem angehalten hatte. Wer auch immer sie angegriffen hatte, befand sich nun nicht mehr hier. Dass es sich um einen Mann gehandelt hatte, davon war Irene überzeugt. Es war ein starker und recht großer Mann gewesen, der sie wie beim Hockey von hinten angegriffen hatte.
Eine Frau hätte nicht so viel Kraft besessen. Irene war fast ein Meter achtzig groß und wog fast siebzig Kilo. Außerdem war sie gut durchtrainiert.
Mit ihrer noch funktionierenden linken Hand tastete sie den Türrahmen entlang, um den Lichtschalter zu suchen. Nach einer Zeit, die ihr vorkam wie eine Ewigkeit, hatte sie ihn endlich gefunden. Erleichtert stellte sie fest, dass die Glühbirne auch wirklich funktionierte. Sofort
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