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Der erste Verdacht

Der erste Verdacht

Titel: Der erste Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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hellgrau verputzt und hatte schwarz gestrichene Balkongeländer aus Gusseisen.
    »Wir sind da«, stellte Irene fest.
    »Ja. Und da drüben liegt ein Restaurant, das vielversprechend aussieht«, sagte Kajsa und deutete auf die andere Seite der stark befahrenen Kreuzung.
    An der großen Kreuzung lagen mehrere Lokale. Bei zweien handelte es sich um exklusive Fischrestaurants, die übrigen waren Bistros und Cafes. Das Vielversprechende hatte Tische in der Sonne.
    Auf einem großen Schild über der Tür stand La Rotonde, und sie entschlossen sich, es zu versuchen. Nachdem sie die große Kreuzung an mehreren Ampeln überquert hatten, ließen sie sich an einem Marmortischchen auf knarrende Korbstühle sinken. Der ganze Bürgersteig vor dem Lokal war mit Tischen und Stühlen voll gestellt, und fast alle waren besetzt. Sie hatten Glück, überhaupt noch einen freien Tisch gefunden zu haben.
    Mit Kajsas Hilfe gelang es Irene, ein Bier zu bestellen, eine Flasche Mineralwasser und Hühnchen mit Noilly-Prat-Sauce auf Gemüsebett. Nach dem Essen bestellten sie einen Café au lait und lehnten sich auf den knackenden Stühlen zurück. Irene freute sich, dass sie einer Eingebung zufolge ihre Sonnenbrille eingepackt hatte. So konnte sie ungeniert die Menschen beobachten, die in einem nie versiegenden Strom an ihrem Tisch vorbeikamen.
    Sie zahlten, blieben aber noch einen Moment in der warmen Sonne sitzen.
    »In dieser Stadt herrscht wirklich eine tolle Stimmung«, meinte Irene.
    »Ja. Hier ist immer etwas los. Diese Stadt schläft nie.«
    »Warst du schon mal hier?«
    Kajsa lächelte, ehe sie antwortete: »Ich habe fünf Monate hier gewohnt und als Au-pair gearbeitet. Aber dann bin ich nach Hause gefahren. Es war nicht so spaßig, auf zwei Kleinkinder aufzupassen. Die Familie wohnte auch ziemlich weit außerhalb … da war die Ausbildung bei der Polizei verlockender.«
    »Dann ist es nicht verwunderlich, dass du so gut Französisch kannst«, meinte Irene.
    »Nein, obwohl es zehn Jahre zurückliegt, ist viel hängen geblieben.«
    »Du redest nicht wie jemand aus Göteborg, nach Stockholm klingt es aber auch nicht. Wo kommst du eigentlich her?«
    »Aus Eskilstuna.«
    »Aha. Wie hat es dich dann nach Göteborg verschlagen?«
    Irene war sich bewusst, dass sie Kajsa aushorchte, aber die Gelegenheit schien günstig.
    Kajsa schwieg lange, bevor sie antwortete: »Das Übliche. Ein Mann«, entgegnete sie kurz.
    Irene witterte interessante Informationen und ließ sich nicht abschrecken.
    »Ach. Seid ihr noch zusammen?«
    »Nein.«
    »Und du hast dir keinen anderen zugelegt?«
    »Nein.«
    Kajsa unternahm nicht einmal den Versuch zu verbergen, wie sehr sie sich über Irenes aufdringliche Fragen ärgerte. Aber Irene hatte nicht die Absicht, so einfach aufzugeben. Jetzt hatte sie Kajsa da, wo sie sie haben wollte. Ruhig sagte sie: »Überleg es dir genau, bevor du was mit einem Neuen anfängst. Ein verheirateter Mann bedeutet Schwierigkeiten, und zwar für dich und für seine Frau und seine Kinder. Je mehr Kinder, desto mehr Schwierigkeiten. Kinder kommen immer zuerst, denn sie leiden unter einer Scheidung am meisten. Und wenn du es warst, die die Trennung verursacht hat, wirst du immer die zweite Geige spielen. Schließlich war es deine Schuld, dass die Ehe in die Brüche ging.«
    Kajsa wurde leichenblass, aber bevor sie irgendwie reagieren konnte, hatte Irene sich erhoben.
    »Jetzt müssen wir aber wirklich los. Philips Mutter hat gesagt, die Wohnung sei nicht so groß. Wir werden sie wohl gründlich durchsuchen können, bevor wir wieder in den Flughafenbus steigen müssen. Ich meine mich zu erinnern, dass er um sechs fährt«, fuhr sie unbeschwert fort.
    Ohne eine Erwiderung ihrer Kollegin abzuwarten, steuerte Irene den nächsten Zebrastreifen an.
    Kajsa schwieg, während sie auf Haus Nummer 207 zugingen. Sie war nicht dumm und hatte Irenes Botschaft empfangen, die lautete: Pfoten weg von Tommy. Mit ihm wollte Irene bei Gelegenheit auch noch reden. Irgendetwas stimmte zwischen ihm und Agneta offenbar nicht mehr. Oder gab es einen anderen Grund? Vielleicht gehörte er inzwischen auch zu den alten Knochen, die begehrliche Blicke auf alle jungen Frauen warfen? Oder handelte es sich um eine verspätete Midlife-Crisis? Dieser Gedanke war ihr vor einigen Tagen gekommen – nicht auszuschließen, dass die Erklärung so simpel war. Was wusste sie eigentlich über Tommys Gefühle, über den Mann, den sie ihren besten Freund nannte? Die Antwort lautete:

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