Der erste Verdacht
Überfall hörte. Nachdem er sich versichert hatte, dass Irene relativ unverletzt war, versprach er, sich zu Hause um alles zu kümmern. Im Laufe der Jahre hatte er sich daran gewöhnt. Er war ein Fels in der Brandung; ohne ihn wäre es Irene nie gelungen, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Dass ihr jemand den Rücken freihielt, war für sie ebenso wichtig wie für ihre männlichen Kollegen mit Frau und Kindern. Und wie diese dachte sie nur selten darüber nach.
Das Auto bremste vor dem Hotel Montparnasse Raspail. Sie dankte ihrem uniformierten französischen Kollegen und hängte sich umständlich ihren Rucksack über die linke Schulter. Die Glastüren des Hotels öffneten sich automatisch, als sie sich dem Entree näherte.
Die Lobby war relativ klein und schien gerade erst in hellen Terrakottatönen gestrichen worden zu sein.
Die junge Frau hinter dem Empfangstresen trug ein strenggeschnittenes, dunkelblaues Kostüm und eine blendendweiße Bluse. Irene fiel auf, dass sie ungewöhnlich groß und schlank war. Die Glasperlen an den Hunderten von Zöpfchen auf ihrem Kopf rasselten, als sie sich erhob. Sie lächelte Irene herzlich an, und ihre Zähne funkelten in ihrem dunklen Gesicht. Was hat sie in einer Hotelrezeption verloren?, dachte Irene. Sie könnte auf den Catwalks der großen Modehäuser ein Vermögen verdienen. Schließlich war sie hier in Paris.
Irene nannte ihren Namen. Die Empfangsdame, die laut Namensschild Lucy hieß, suchte sie rasch im Computer. Dann nickte sie freundlich und sagte: »Willkommen, Madame Huss. Ich hoffe, es gefällt Ihnen bei uns.«
Ihr Englisch war bedeutend besser als das von Irene.
»Danke.«
Irenes Blick fiel auf eine kleine Bar in der Ecke der Lobby.
»Entschuldigen Sie, aber wäre es wohl möglich, einen Kaffee und ein belegtes Brot zu bekommen?«
Sie hatte nicht die Kraft, die Müdigkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Lucy nickte und sagte sofort: »Natürlich, Madame. Ich kümmere mich darum. Aber es wird einen Moment dauern.«
Sie hielt kurz inne, dann beugte sie sich über den Tresen.
»Entschuldigen Sie … brauchen Sie Hilfe …?« Irene sah, dass sie auf ihre Schulter starrte.
»Nein, nur einen Kaffee und ein belegtes Brot«, antwortete sie verwirrt.
»Ich meine … Madame, Sie haben Blut auf Ihrem Pullover.« Ein Blick in den Spiegel hinter Lucy bestätigte ihre Worte.
Hoch oben auf der linken Schulter waren deutliche Blutflecken auf Irenes hellblauem Top auszumachen.
»O nein! Ich habe doch schon mein Reserve-T-Shirt dazu benutzt, die Blutung zu stillen! Das ist nicht mein Blut. Meine Kollegin … hatte einen Unfall.«
Ehe sie es sich noch anders überlegen konnte, hatte Irene bereits eine gekürzte Version der Ereignisse des Tages zum Besten gegeben. Die junge Frau hörte aufmerksam zu und nickte.
»Sie sind also Polizistin? Sie hatten gar nicht vor, in Paris zu übernachten?«, fragte sie nachdenklich, als Irene mit ihrem Bericht fertig war.
Lucy dachte eine Weile nach, dann rief sie: »Madame! Ich weiß! Eine meiner Freundinnen kann Ihnen helfen! Sie brauchen ein neues T-Shirt und einen Slip. Nicht wahr?«
»Ja. Ich meine … ja, danke. Ich habe auch ein Rezept …«, antwortete Irene zerstreut.
Es gelang ihr, das Rezept im Außenfach des Rucksacks zu finden.
»Wo gibt es eine Apotheke?«, fragte sie.
»Madame Huss, geben Sie nur mir das Rezept. Gehen Sie in Ihr Zimmer und ruhen Sie sich eine Weile aus. Ich komme dann mit der Medizin, dem Kaffee und den Kleidern. Bitte schön. Zimmer 602.«
Benommen nahm Irene die Plastikkarte, die als Zimmerschlüssel diente, in Empfang und ging auf den winzigen Fahrstuhl zu. Es war ein herrliches Gefühl, endlich einen Teil der eigenen Sorgen jemand anderem überlassen zu können. Irene wusste, dass das ein trügerisches Gefühl war, dem sie bisher noch nie nachgegeben hatte. Vielleicht war es nun an der Zeit. Lucys herzliches Mitgefühl hatte den Knoten der Wut gelöst, den Inspektor Verdiers eiskalte Augen und seine abweisende Haltung in ihr gebildet hatten.
Das Zimmer war klein, aber sauber und sehr gut in Schuss.
Das ganze Hotel schien frisch renoviert zu sein. Toilette, Dusche und ein einladendes Bett, was wollte man mehr?
Irene erwachte davon, dass es an der Tür klopfte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie fast vierzig Minuten geschlafen hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sich aufs Bett gelegt hatte. Wahrscheinlich war sie eingeschlafen, noch ehe ihr Kopf
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