Der erste Verdacht
Gefühl, hundert Jahre in der Zeit zurückgereist zu sein. Der gedämpfte Lärm des Verkehrs und der Sirenen, der durch die Fenster drang, war das Einzige, was an die Gegenwart erinnerte.
Nach einem langen Marsch durch die düsteren Korridore blieb der Inspektor vor einer Tür stehen und schloss auf.
»Bitte schön«, sagte er und ließ sie vorgehen.
Sie betraten sein Dienstzimmer. Ein zerkratzter Schreibtisch und zwei Stühle waren die einzigen Möbel. An der Wand hing ein Bord mit ein paar Ordnern, und auf dem Schreibtisch stand ein uralter Computer. Es war kalt im Zimmer, und Irene zog umständlich ihre Jacke an, bevor sie sich auf den Stuhl setzte, auf den Verdier deutete.
Ehe Irene noch mit ihrem langen Bericht beginnen konnte, flötete ihr Handy schon wieder die Marseillaise. Birgitta teilte mit, dass sie im Hotel Montparnasse Raspail ein Zimmer bestellt habe. Laut der Dame im Reisebüro liege es ganz in der Nähe von Rothstaahls Adresse. Auch die Flugtickets habe sie umgebucht.
Während Irene in holprigem Englisch von den Mordfällen in Göteborg erzählte, saß Inspektor Verdier schweigend da und betrachtete sie. Es hingen keine Bilder an den Wänden, und es stand auch kein Blumentopf auf der Fensterbank, auf den sie ihren Blick hätte richten können. Irene sah sich gezwungen, in die kalten Augen des Inspektors zu blicken. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass jemand nur so selten blinzeln musste. Aber es war effektiv. Einen Augenblick lang fühlte sich Irene versucht zu gestehen, sie habe Kajsa eins übergezogen und sich selbst in die Kleiderkammer eingeschlossen, nur um endlich seinem kalten, prüfenden Blick zu entrinnen. Sie riss sich jedoch zusammen und zwang sich, Verdier die Ereignisse so sachlich wie möglich zu schildern. Eine eiskalte Attitüde an den Tag legen konnte sie mindestens so gut wie er.
Als sie geendet hatte, herrschte lange Stille.
»Warum hat Ihr Chef zwei Frauen hierher geschickt?«, fragte Verdier schließlich.
Irene erstaunte seine Frage nicht im Geringsten, aber sie hatte sein Verhalten langsam satt.
»Er hat einfach seine besten Leute geschickt. Schließlich haben wir es mit einem gefährlichen Mörder zu tun«, antwortete sie.
Ein Glitzern erschien in den Augen des Franzosen, verschwand aber, bevor Irene es hätte deuten können.
Verdier saß lange da und starrte sie an. Trotzig starrte sie zurück und stellte zufrieden fest, dass er als Erster den Blick senkte. Er versuchte, seine Niederlage zu kaschieren, indem er sich von seinem unbequemen Stuhl erhob.
»Möchten Sie irgendwo hingefahren werden, Madame?«, fragte er.
Seine Stimme war immer noch voll kühler Höflichkeit, aber Irene hörte seine Absicht heraus, sie darauf aufmerksam zu machen, wie sehr er das »Madame« betonte und auf die Nennung ihres Dienstrangs verzichtete.
»Ja, bitte. Ich will zu meinem Hotel am Boulevard Raspail«, antwortete sie, ohne nachzudenken.
Sie war sich bewusst, dass sie die Adresse falsch aussprach, aber das war ihr egal, solange sie nur dieses deprimierende Zimmer verlassen und dem noch deprimierenderen Verdier entgehen konnte. Er reichte ihr seine Visitenkarte und sagte:
»Ich hätte gern Ihre Handynummer. Falls noch etwas sein sollte oder ich Sie brauche.«
Letzteres klang fast wie eine Drohung.
Ein junger Polizist in Uniform fuhr sie in einem Zivilwagen zurück zum Montparnasse. Irene setzte sich freiwillig auf den Rücksitz. Sie hatte keine Lust, auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, eine Unterhaltung in stockendem Englisch zu führen. Plötzlich war sie wahnsinnig müde. Das Geplänkel mit Inspektor Verdier war anstrengend gewesen, und auch der Überfall in der Wohnung und der anschließende Besuch des Krankenhauses hatten sie Kraft gekostet. Dabei hatte sie nicht einmal Kajsa sehen dürfen.
Der Arzt hatte Irene versprochen, dass sie ihre Kollegin besuchen dürfe, sobald sie auf eine Station verlegt worden sei. Aber das würde kaum vor dem Abend der Fall sein, hatte er gesagt. Jetzt war es fast sechs, und Irene blieb noch Zeit, die Wohnung zu durchsuchen, bevor sie ins Krankenhaus zurück musste.
Aber erst einmal musste sie ein paar Tassen Kaffee trinken und vielleicht auch ein belegtes Brot essen. Der Ellbogen tat ihr inzwischen richtig weh, vielleicht sollte sie auch noch besser mit dem Rezept in die Apotheke gehen.
Sie nahm ihr Handy aus dem Rucksack und erwischte Krister, der gerade nach Hause gekommen war. Er war besorgt, als er von dem
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