Der erste Verdacht
später an.«
Irene beeilte sich, ihr Handy abzustellen. Schweigend betrachtete Inspektor Verdier sie mit seinen hellen Augen. Nachdrücklich klopfte er mit dem Zeigefinger auf ein Schild an der Wand, auf dem ein durchgestrichenes Handy abgebildet war.
Rasch packte Irene ihre Sachen zusammen. Den Rucksack hängte sie über die gesunde linke Schulter, die Jacke legte sie über den Arm. Verdier versuchte nicht einmal andeutungsweise, ihr beim Tragen zu helfen, hielt ihr aber die Tür auf, als sie das Zimmer verließen.
Er lotste sie durch die betriebsame Notaufnahme und weiter durch die Krankenwagenschleuse. Eine Krankenschwester sagte etwas zu ihm, verstummte aber, als er ihr einen finsteren Blick zuwarf und mit seinem Dienstausweis fuchtelte. Irene war klar, dass Patienten und Angehörige diesen Weg nicht benutzen durften. Man konnte überfahren werden, wenn ein Krankenwagen mit Vollgas angerast kam. Aber das galt nur für Normalsterbliche, nicht für Inspektor Verdier. Mit wehenden Rockschößen strebte er dem Parkplatz zu, ohne sich darum zu scheren, ob sie ihm folgte oder nicht. Er schloss die Türen eines dunkelgrauen Renault Mégane auf und hielt eine davon auf. Es überraschte sie kaum, dass es sich dabei um die Tür zum Rücksitz handelte. Offenbar wollte sich ihr französischer Kollege während der Fahrt nicht unterhalten. Dazu würden sie noch mehr als genug Zeit haben. Schweigend fuhren sie durch den Nachmittagsverkehr. Irene schaltete ihr Handy wieder ein und wählte Birgittas Nummer, die sofort abhob.
»Was war los?«
»Man darf im Krankenhaus kein Handy benutzen. Jetzt werde ich gerade zum Verhör ins Präsidium gefahren.«
»Verhör?«
»Ja. Da kommt was auf mich zu. Mit diesem Kollegen ist nicht gut Kirschen essen.«
Sie begegnete Verdiers ausdruckslosem Blick im Rückspiegel und zwang sich zu einem Lächeln. Birgitta kicherte: »Du musst es halt so sehen: Immerhin bleibt dir eine Auseinandersetzung mit Sven erspart.«
Das hätte ihr noch gefehlt. Sie gab sich keinen Illusionen hin, was die Ansichten des Kommissars zu den neuesten Entwicklungen in Paris betraf. Sie seufzte tief und mied Verdiers Augen, die sie aus dem Rückspiegel anstarrten.
»Liebste Birgitta, kannst du nicht das Reisebüro anrufen und die Tickets auf morgen Nachmittag umbuchen? Und bitte sie darum, mir ein Hotel in der Nähe von Rothstaahls Wohnung zu besorgen. Ich habe keinen Wagen, und unser französischer Kollege sieht nicht so aus, als würde er mir seine Dienste als Chauffeur anbieten. Da ich nun einmal hier bin, will ich auch so viel wie möglich über Bergman und Rothstaahl in Erfahrung bringen.«
»Gut! Das könnte Andersson davon überzeugen, dass die ganze Reise kein totaler Flop war. Ich ruf wieder an, wenn ich die Sache mit dem Reisebüro geklärt habe. Und noch etwas: Ich habe heute Morgen bei der Pariser Niederlassung von H.P. Johnson’s angerufen. Sie sagen, bei ihnen sei nie ein Joachim Rothstaahl angestellt gewesen. Das hatte sich der kleine Schlaumeier einfach nur ausgedacht, um seine Eltern zu beruhigen. Es stellt sich also immer mehr die Frage, was die beiden Burschen eigentlich in Paris trieben.«
Ein Gefühl der Verlassenheit ergriff Irene, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. Der Kontakt mit der Heimat war unterbrochen. Jetzt musste sie in der fremden Großstadt, deren Sprache sie nicht beherrschte, allein klarkommen. Und der einzige Eingeborene, zu dem sie Kontakt hatte, war so herzlich wie ein Kühlschrank.
Bevor sie durch ein hohes Tor fuhren und das Auto abstellten, war Irene ein Gebäude aufgefallen, das sie wiedererkannte. Die vielen mit einem Drachenkopf geschmückten Türme und Türmchen konnten nur zu Notre Dame gehören.
Sie traten durch ein imposantes Holzportal mit Eisenbeschlägen, das den Anschein erweckte, als hätte es bereits dem Ansturm des Pöbels während der Französischen Revolution standgehalten. Jetzt wurde es von einem Polizisten in Uniform in einem Schilderhäuschen aus Glas bewacht. Er salutierte stramm, als sie vorbeigingen, was Verdier weitgehend ignorierte.
Sie betraten einen alten, klapprigen Fahrstuhl. Inspektor Verdier drückte auf einen Knopf, neben dem die Buchstaben P. J. standen. Daneben war police judiciaire in ein kleines Messingschild eingraviert. Der Aufzug brachte sie ein paar Stockwerke nach oben, und anschließend gingen sie durch dunkle Korridore. Durch kleine, schmutzige Fenster auf der einen Seite drang nur wenig Licht. Irene hatte das
Weitere Kostenlose Bücher