Der erste Weltkrieg
Bewegungen nicht durch Konzessionen beschwichtigt und in das bestehende System integriert werden konnten, leisteten sie leicht einer Polarisierung der politischen Konflikte Vorschub. Diese Polarisierung, die sich gerade auch an der Frage der Steuerlastenverteilung und der jeweiligen Nutznießer der in die Gesellschaft rückverteilten Staatseinnahmen manifestierte, verstärkte die Neigung der Regierenden, Innen- und Außenpolitik zu verknüpfenund je nach Interessenlage die eine als Schwungrad der anderen zur Stabilisierung des bestehenden Systems einzusetzen.
Doch wie immer man die tieferen innen- und außenpolitischen Ursachen des Ersten Weltkrieges auch gewichten mag, die Mobilmachung von Millionen von Soldaten, die auf den Schlachtfeldern kämpften und starben, erfolgte aufgrund von Entscheidungen und Befehlen, die nicht von anonymen Kräften, sondern von Menschen formuliert worden waren. Ebenso wenig handelte es sich dabei um Entscheidungen, die von den Bevölkerungsmassen in den verschiedenen europäischen Nationalstaaten oder von größeren, klar identifizierbaren Elitegruppen, wie etwa den Industriellen oder den Bankiers, gewollt und gefällt wurden. Parlamentarier oder Journalisten hatten auch keinen direkten Anteil an den Entscheidungen, die im Ausbruch des Weltkrieges endeten.
Vielmehr fielen die Würfel in einem kleinen Kreis um die beiden gekrönten Häupter der zentraleuropäischen Monarchien in Wien und Berlin. Auch in Russland, Großbritannien und Frankreich war nur eine kleine Gruppe von Verantwortlichen involviert. Indessen reagierten sie in erster Linie auf die Schachzüge, die von Franz Joseph I. und Wilhelm II. mit ihren engsten Beratern entwickelt worden waren. Diese beiden Monarchen hatten nach der Verfassung der beiden Staaten das exklusive Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden, und insofern lag in ihren Alleingängen nichts Illegitimes. Doch in ihren Konsequenzen waren sie welterschütternd. Kurzum, die unmittelbaren Ursachen des Ersten Weltkrieges sind vor allem in Berlin und Wien und weitaus weniger in London, Paris oder St. Petersburg zu suchen.
2. Die Verantwortung der Entscheidungsträger
Angesichts dieser Macht- und Entscheidungskonstellation erhebt sich als Erstes die Frage, wie die beiden Monarchen und ihre Berater in Wien und Berlin die Welt von 1914 sahen und die Zukunft einschätzten.
Betrachtet man verschiedene private Äußerungen und öffentlicheStellungnahmen von Franz Joseph I. und Wilhelm II., so mag es erscheinen, als seien sie besonders aggressiv und auf territoriale Eroberungen erpicht gewesen. Doch hinter dem Säbelrasseln verbargen sich bei beiden eine große Unsicherheit und ein wachsender Pessimismus. Das Habsburger Reich schien angesichts der starken Unabhängigkeitsbestrebungen der Slawen, ob im nördlichen Böhmen und Mähren oder auf dem südöstlichen Balkan, auseinander zu fallen. Seit der Annexion Bosniens im Jahre 1908 hatte sich das Verhältnis Wiens zu Russland, das mehr und mehr die Rolle eines Protektors aller Slawen übernahm, verschlechtert.
Auch für das Deutsche Reich sah es 1914 nicht gut aus. Infolge seiner antibritischen und antifranzösischen Welt- und Rüstungspolitik war Wilhelm II. seit der Jahrhundertwende zunehmend in die Isolierung geraten. Statt sich selber für diese Lage verantwortlich zu machen, wurde diese Isolierung in Berlin als lebensbedrohende «Einkreisung» seitens der Triple Entente verstanden, nachdem sich der Ring um die Zentralmächte 1907 mit der englisch-russischen Verständigung geschlossen hatte. Im Innern hatte der deutsche Kaiser wie der Habsburger zwar auch mit unruhigen Minderheiten zu kämpfen; doch diese Konflikte verblassten gegenüber der wachsenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die als fundamentale innenpolitische Bedrohung empfunden wurde.
Wir wissen heute, dass die deutschen Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei (SPD) eher reformistisch denn revolutionär waren. Doch änderte dies nichts an der subjektiven Furcht der Regierenden vor ihrem Potenzial an der Wahlurne. Immerhin war die SPD bei den Wahlen von 1912 zur stärksten Partei im Reichstag aufgestiegen und verlangte zumindest eine Parlamentarisierung, auf ihrem linken Flügel gar eine noch radikalere Reformierung des politischen Systems. Das aber erforderte einen Verfassungswandel und einen Machtverlust des autokratischen Monarchen, den er und seine erzkonservativen Berater in Friedenszeiten niemals zugestehen
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