Der Esper und die Stadt
Märchen.
Neben mir stand der Gefangene, den ich gerettet hatte. Er sah ebenfalls zu und zerrte dabei verzweifelt an seinem ledernen Knebel. Ich gab ihm das Opfermesser und betrachtete weiter den Bildschirm.
Der fliegende schwarze Dämon strauchelte. Die Priester packten ihn, zogen ihn zum Altar und warfen ihn rücklings auf die Steinplatte. Jede ihrer Bewegungen zeigte, wie sehr sie sich anstrengten und unter welchem Streß sie standen. Vor Wut und Angst schäumend hob der Hohepriester sein Messer und eilte auf die wehrlose schwarze Gestalt, die erfolglos gegen ihre Widersacher kämpfte, zu.
„Großartige schauspielerische Leistung“, murmelte ein uns zusehender Mann. „Ich hoffe, Sie werden einen Preis dafür kriegen.“
Ich hatte ganz vergessen, daß ich es war, den man auf dem TV-Schirm sah. Ich schaute weiter zu. Neben mir riß sich der Gerettete den Knebel aus dem Mund. Schweratmend blieb er stehen und gaffte.
Der Fernsehmann mit dem Zeigestock erklärte nun die Bedeutung des Rituals, aber die vorbeiströmenden Massen hörten ihm nicht mehr zu. Statt dessen beobachteten die Leute die Handlung und verspürten eine Welle von Furcht und Aufregung. Der Hohepriester auf dem Bildschirm holte weit mit seinem Messer aus, warf einen Blick auf die über ihm stehende Sonne und stieß es dann herab, was den Eindruck erweckte, er würde die Brust des schwarzen Dämons aufschlitzen und ihm das Herz herausschneiden. Seine widersprüchlichen Gesten waren echt, aber als er der Sonne die Arme entgegenhob, gab es weder Blut noch ein Herz zu sehen, und die schwarze Gestalt mit dem verdeckten Gesicht stand immer noch da und sah ihn an. Die zusehende Menschenmenge stieß mit einem erleichterten Seufzer die Luft aus und fing an zu murmeln.
Der ältliche Gentleman auf dem Bildschirm erklärte etwas. Die Leute hörten wieder zu. „Im Gegensatz zur Frühjahrssonnenwende allerdings, die den Tod und die Wiedererweckung des Lebens zeigt, wird in diesem Falle der Opponent – die Gottheit, die den Winter, die Nacht und den Tod repräsentiert – von den triumphierenden Kräften des Sommerlichts auf dem Altar geopfert. Aber dennoch stirbt diese Gottheit nicht, denn den Tod kann man nicht töten. Der Tod und die Finsternis werden immer wieder zurückkehren, wenn es für sie an der Zeit ist.“
Der neben mir stehende Gerettete sagte: „War ich da oben? Habe ich das mitgemacht?“
Ich sah ihn mir an. Er hatte das lederhäutige, dunkle Raubvogelgesicht von Akbar Hisham, dem König der arabischen Flüchtlingsenklave. Jetzt, wo er sich das ganze Stroh vom Leib gerissen hatte, trug er nur noch zerlumpte Beinkleider. Dort, wo man das Stroh hineingesteckt hatte, wiesen sie zahlreiche Löcher auf. Er sah aus wie ein Clown in gelber Unterwäsche. Ich lächelte aber nicht.
Vor einer Woche hatte ich ihn schon genug beleidigt, denn als ich zusammen mit Ahmed aus seinem Reich geflohen war, hatte er uns als Stöpsel gedient. Und nun beschuldigten die Araber mich, ich hätte etwas mit Akbar Hishams Entführung zu tun. Ich war froh, daß ich eine Maske trug.
Die Menge schrie, als die schwarze Gestalt wie ein Skispringer auf einer Sprungschanze die großen Stufen der Pyramide hinunterjagte. Das Klangsystem der TV-Anlage wurde lauter. Die Stimme des Experten brüllte über das Geschrei der Menge hinweg. „Und er nimmt ein Opfer, das die Hälfte des Jahres symbolisiert, mit sich hinunter in die Region der dunklen, kalten und immerwährenden Nacht.“
Akbar Hisham sah immer noch zu mir auf und versuchte das menschliche Gesicht unter der Maske zu erspähen. Das seltsame, schwarzsilberne Gesicht kam ihm sichtlich unheimlich vor. „Ich symbolisiere also eine Jahreshälfte.“ Sein Tonfall war sarkastisch. „Vielleicht bin ich Tammuz? Oder Persephone? Warum habe ich überhaupt eine Rolle in dieser Farce gespielt, wenn sie gar nicht vorhatten, mich umzubringen? Sie müssen doch wissen, daß nach dieser Geschichte jemand sterben muß!“
Mir fiel ein, daß Ahmed gesagt hatte, Kommunen würden oft kriegsähnliche Auseinandersetzungen miteinander haben – wie Urwaldvölker. Die uns umgebende Menge schrie. Ich sah zu dem Bildschirm hinauf. Die fliegende schwarze Gestalt machte zwei irre aussehende Seitwärtsdrehungen und überschlug sich zweimal nach vorn. Dann wurde sie vom Druck der Düsen ins Nichts geworfen, fiel zwischen die Gebäude und blieb dann nur knapp fünfzehn Meter über den auseinanderströmenden Massen aufrecht in der Luft
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