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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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und hielt mich in der Schwebe, ohne dem Boden näher zu kommen.
    Der große TV-Schirm unter mir zeigte eine Aufzeichnung der letzten zehn Minuten: Nahaufnahmen der Aztekenpyramide, das Eintreffen der Priester und den Menschenstrom, der die Puppen und den Thron des „gefangenen Königs“ aufs Dach gebracht hatte. Im Moment der Opferung ging die Aufzeichnung auf Distanz, damit es nicht allzu deutlich sichtbar wurde. Der Schatten des aztekischen Kalenderscheins erhob sich matt über der Szenerie; ein gigantisches Rad mit seltsamen Symbolen, dessen Spitze und Zentrum von der Sonne beschienen wurde. Irgend jemand hatte die Aufzeichnung so bearbeitet, daß die Offensichtlichkeit der Gewalt heruntergespielt wurde. Dann ging die TV-Kamera wieder näher heran und zeigte eine große, schwarze Dämonengestalt, die direkt aus dem Himmel geschwebt kam und auf dem zur Opferung bestimmten Puppenstapel landete. Das Bild blieb stehen: Die schwarze Gestalt befand sich nun inmitten der Puppen und schrie die Priester herausfordernd an.
    Ich hatte vergessen, daß ich immer noch in der Luft schwebte. Nun sah ich, daß sich unter mir ein Fleckchen ausbreitete, das sowohl frei von Bäumen als auch von Menschen war. Ich schaltete den Düsengürtel auf Landung. Sanft trug er mich der Erde entgegen. Die Menge machte unter mir einen etwa zehn Meter durchmessenden Platz frei und applaudierte respektvoll, als ich den Boden berührte.
    Es war ein komisches Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich roch trockene, saubere Erde, Gras und eine gute Nase voll heißer italienischer Süßwurst, die irgendwo feilgeboten wurde. Ich stellte den Mann im Puppenkostüm auf die Beine und nahm das Bronzemesser des Hohepriesters, um ihn von seinen Arm- und Fußfesseln zu befreien.
    Als ich mich hinkniete, um seine Fußfesseln zu durchschneiden, riß er sich die Puppenmaske ab und den Knebel heraus. Über uns sagte die Stimme des Fernsehsprechers: „Viele unserer Zuschauer haben uns um einen Vortrag über die Mythologie der schwarzen Dämonengestalt gebeten, die um elf Uhr an dem aztekischen Ritualopfer teilnahm. Der Anthropologe Edmond Hilary hat sich freundlicherweise bereiterklärt, uns zu diesem Thema etwas zu erklären. Bitte, Mr. Hilary.“
    Ich sah auf und sah den bekannten Fernsehmann neben einem Bild der Pyramidenszene stehen. Er berührte die schwarze Gestalt mit einem Zeigestock, und die Szene veränderte sich. Die Priester eilten auf das Ende der oberen Plattform zu und bedrohten die schwarze Gestalt mit ihren Messern. Das schwarzsilbern bemalte und behelmte Gesicht schrie ihnen eine Drohung entgegen.
    „Ahem“, räusperte sich der Experte. „Nun, diese symbolische schwarze Gestalt dürfte den finsteren Gott der Unterwelt darstellen, der ein Gegner der Helligkeit ist. In den meisten Mythologien repräsentiert er die dunklen Nachtstunden und die Finsternis des Todes. Außerdem verkörpert er aber auch die Dunkelheit und Kälte des Winters und den Tod der Vegetation. Er ist der Richter, der grimmige Sensenmann.“ Der Fernsehexperte zögerte und betrachtete die Filmhandlung. „Überraschend ist, daß wir es hier mit einer Figur zu tun haben, die in einem heißen Klima, das gar keinen richtigen Winter kennt, den Winter repräsentiert. In heißen Klimaten ist der Tod in der Regel ein Jaguar oder irgendein anderes Raubtier. Dort dürfte der Tod weder finster noch kalt sein. Wir können also möglicherweise annehmen, daß wir diesmal die Ehre hatten, Zeugen eines Rituals gewesen zu sein, das unvorstellbar alt ist und noch aus der Zeit vor den ersten nordamerikanischen Städtebauern stammt, aus jener Epoche, als man noch auf den Rücken der Mammuts die Riesenfaultiere jagte – in einem kalten Klima.“
    Der Experte sah zu, wie ich hinkniete, um der roten Leiche meinen Ersatz-Düsengürtel anzulegen. „Hmm, nun … äh … kniet er sich hin. Dies ist der Höhepunkt des längsten Tages, der Triumph der hellen Sommersonne, und der Gegner der Sonne kniet vor den Priestern und bringt der Sonne ein Opfer.“ Auf dem Bildschirm schwebte die rote Leiche nun dem blauen Bilderbuchhimmel entgegen.
    Ich stand auf, sah mir an, wie die halbnackten „Indianer“ sich auf den Puppenstapel stürzten und nach den Fesseln der finsteren Gottheit griffen. Nach mir. Die beiden Düsen erhoben sich über ihre Schultern wie sich ausbreitende Schwingen, und sie flog langsam hoch, über den Altar. Die Szene sah primitiv aus, wie ein uralter Mythos oder ein

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