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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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ein, zwei Blocks weit. Meine Beine gehörten mir, mein Körper gehörte mir. Ich war George Sanford und konnte mich bewegen, ohne Angst vor dem Fallen zu haben. Niemand war hinter mir. Niemand war vor mir. Die Sonne schien durch die Wolken, ein frischer Wind blies über die leeren Bürgersteige. Ich war allein. Ich hatte die Kapselwelt des Todesgrauens wie eine verwaiste Telefonzelle hinter mir zurückgelassen.
    Jetzt wußte ich, was ich tun mußte, um aus der Sache rauszukommen. Nicht daran zurückdenken. Einfach vergessen, was Ahmed zu tun versuchte. Scheiß drauf, was gehen dich andere Leute an. Mach einfach einen Spaziergang an der Pier entlang, und laß die neblige Sonne auf dich scheinen. Denk an was Nettes oder auch an gar nichts.
    Ich schaute zurück. Weit hinter mir saß Ahmed auf dem Randstein. Mir fiel ein, daß ich ziemlich stark war und der Sportlehrer gesagt hatte, ich solle mich zurückhalten, wenn ich zuschlug. Auch bei Ahmed? Er hatte nachgedacht und war nicht darauf vorbereitet gewesen.
    Was hatte ich gesagt? Jean Dalais. Jean Fitzpatrick hatte mir ein paar von ihren Gedichten gezeigt. Sie hatte sie mit diesem Namen unterzeichnet. War Jean Dalais in Wirklichkeit Jean Fitzpatrick? Vielleicht hatte sie diesen Namen gehabt, bevor Mort Fitzpatrick ihr Mann geworden war.
    Inzwischen war ich an dem weißen Haus mit den roten Fensterläden vorbeigelaufen. Ich sah mich um – es lag nur einen halben Block hinter mir. Ich lief zurück, mit langen Schritten, und bevor die Angst mich wieder zu packen bekam, rüttelte ich an der Klinke, zerrte an der roten Tür und sah mir das Schloß an.
    Ahmed holte mich wieder ein. „Weißt du, wie man Schlösser knackt?“ fragte ich ihn.
    „Dauert zu lange“, erwiderte er leise. „Laß es uns bei den Fenstern versuchen.“
    Er hatte recht. Das erste Fenster, an dem wir es versuchten, war nur vom New Yorker Ruß verschlossen. Rußverschmiert und mit schwarzen Händen kletterten wir in die Küche. Abgesehen von einem vertrockneten Salat, der in einer Schüssel lag, war sie sauber aufgeräumt. Das Spülbecken war trocken, die Luft roch abgestanden.
    Ich glaube, es gehört zum guten Benehmen, wenn man sein Eindringen irgendwie bekanntmacht.
    „Jean!“ rief ich. Zurück kamen ein paar Echos und Stille, und dann fiel oben etwas aus einem Regal. Wieder erhoben sich in meinem Kopf die Geister und stellten sich mit ausgestreckten Krallen hinter mir auf. Ich lugte über meine Schulter und sah nur die leere Küche. Meine Haut prickelte. Ich hatte Angst davor, Lärm zu machen. Ich hatte Angst, der Tod würde mich hören. Ich mußte rufen und hatte Angst davor. Ich mußte mich bewegen – und auch davor hatte ich Angst. Ich starb vor Feigheit. Es waren die Gedanken eines anderen; sie hatten den Geruch von Krankheit, das Brennen von Durst, die Energie der Wut. Innerlich schrumpelte ich zusammen.
    Ich legte eine Hand auf den Küchentisch. „Oben, auf dem Dachboden“, sagte ich. Ich wußte jetzt, was nicht mit mir stimmte. Jean Dalais war ein Archetyp. Sie lag im Delirium und träumte, daß sie ich sei. Oder ich war wirklich Jean Dalais und litt unter einem anderen Traum, und mir träumte, daß da seltsame Leute in meiner Küche standen und nach mir suchten. Ich, Jean, haßte diese Halluzinationen. Ich drosch auf die Traumbilder der Männer ein, die ein Gefühl von Schwäche und Unwohlsein verspürten, und wußte, wieviel Zeit vergangen war, ohne daß mir jemand geholfen hatte. Ich haßte die ganze Welt, die mich eingesperrt und aus jeder Hoffnung eine Lüge gemacht hatte, und ich versuchte die Lügen ins Nichts zu blasen.
    Die George-Sanford-Halluzination glitt auf dem Küchenboden in eine sitzende Position. Die Papiertüte mit der Bockbierflasche knallte mit einem lauten Geräusch auf den Boden. Sie hörte sich beinahe real an. „Schau du nach, Ahmed“, sagte der George-Sanford-Mund.
    Die andere Gestalt in diesem Traum beugte sich vor und stellte ein Telefon auf den Fußboden. Es prallte mit einem anderen Laut auf das Linoleum und erzeugte ein helles Klingeln, das man fast auch oben noch hören konnte. „Die Halluzinationen werden immer echter. Jetzt kann ich sie schon hören“, murmelte der Phantasie-Sanford vor sich hin. Oder war es Jean Dalais, die nachdachte?
    „Wenn ich rufe, wählst du die Null und sagst, daß die Rettungsbrigade rüberkommen soll.“ Ahmed hob die Papiertüte mit der Bockbierflasche auf. „Alles klar, George?“ Er fing an, die Küchenschubladen zu

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