Der Esper und die Stadt
bettelt nicht.
Wenn ich den Leuten vom Arbeitsamt erzählte, daß meine Schülerbeihilfe nicht mehr kam, wenn ich ihnen sagte, daß ich Geld brauchte, würden sie mir eine Erwachsenenunterstützung und eine Fahrkarte geben, damit ich New York verließ und nie wieder zurückkam.
Ahmed der Araber kam die Straße hinunter. Er ging sehr schnell, mit wippenden Schritten. Als wir klein waren, war er der König unseres Blocks, und manchmal hat er mich gefragt, ob ich ihm nicht helfen könne. In diesem Jahr hatte Ahmed einen Job bei der Rettungsbrigade. Vielleicht würde er mich ihm helfen lassen. Vielleicht konnte er mir einen Job verschaffen. Ich hatte ihn immer gut leiden können.
Als er näher kam, winkte ich ihm zu. „Ahmed.“
Er ging weiter, war in Eile. „Na schön, George, komm weiter.“
Ich nahm seinen Schritt auf. „Was bist du so eilig?“
„Schau dir die Wolken an, Mensch. Irgendwas wird passieren. Das müssen wir verhindern.“
Ich sah mir die Wolken an und hatte das Gefühl, daß sie den ganzen Himmel bedeckten. Gefährlich aussehende, dunkle Schmutzwolken hatten sich über die Stadt gelegt. Sie sahen aus, als würden sie jeden Moment auseinanderplatzen und Feuer und Dreck versprühen. Im Psychologieunterricht auf der High School hatten sie gesagt, daß Menschen die Dinge immer so sehen, wie sie ihrer Stimmung entsprechen. Daß meine Stimmung nicht die beste war, wußte ich, aber ich wußte immer noch nicht, wie der Himmel wirklich aussah. Dunkel war er ja, aber vielleicht trotzdem harmlos.
„Was ist das?“ fragte ich. „Ist es Smog?“
Ahmed blieb stehen und sah mir ins Gesicht. „Nein. Es ist Angst.“ Er hatte recht. Die Angst lag wie ein Nebel in der Luft. Es war Angst in den bedrohlichen Wolken und in der Finsternis auf den Gesichtern der Leute. Die Menschen eilten gebückt unter dem schweren Himmel dahin, als würde ein kalter Regen fallen. Die Gebäude über uns schienen sich auszudehnen.
Ich schloß die Augen, aber das änderte nichts.
Im vergangenen Jahr, als Ahmed und ich für die Rettungsbrigade gelernt hatten, hatte er ein Schulungsbuch geöffnet und mir etwas über den Unterschied zwischen der inneren und äußeren Realität begreiflich zu machen versucht – und wie Menschen in Panik geraten, wenn sie allesamt den gleichen Eindruck haben. Ich öffnete die Augen und studierte die Menschen, die auf mich zukamen, an mir vorbeigingen und von mir weg eilten. Ich sah sie als sich bewegende Menschenmassen. Die Leute in New York haben es immer eilig. Sahen sie alle die sich neigenden Gebäude, die den Anschein erweckten, als würden sie gleich umkippen? Hatten sie alle Angst, darüber zu reden?
„Ahmed, du Rettungsbrigadenspitzel“, sagte ich. „was würde passieren, wenn wir jetzt mit aller Kraft ‚Erdbeben’ riefen? Käme es dann zu einer Panik?“
„Höchstwahrscheinlich.“ Ahmed musterte mich interessiert. Sein schlankes Gesicht und seine schwarzen Augen wirkten gespannt. „Wie fühlst du dich, George? Du siehst krank aus.“
„Ich fühle mich lausig. Mit meinem Kopf stimmt was nicht. Mir ist schwindlig.“ Reden machte es nur noch schlimmer. Ich lehnte mich gegen eine Hauswand. Die Wand bebte, und ich hatte das Gefühl, flach auf dem Boden zu liegen, obwohl ich auf den Beinen stand.
„Was, zum Kuckuck, ist nur mit mir los?“ fragte ich. „Man kann doch nicht so krank werden, wenn man ein paar Mahlzeiten ausläßt, oder?“ Schon das Erwähnen von etwas Eßbarem führte dazu, daß sich mein Magen seltsam hohl und ausgetrocknet anfühlte. Plötzlich dachte ich an den Tod. „Ich habe nicht mal Hunger“, sagte ich zu Ahmed. „Bin ich wirklich krank?“
Ahmed war einer von denen, die auf alles eine Antwort haben.
„Mann, du bist einfach ein guter Empfänger.“ Er musterte mein Gesicht.
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