Der Esper und die Stadt
„Irgend jemand hier in der Gegend hat Schwierigkeiten, und du fängst es auf.“ Er sah von Osten nach We sten und studierte den Himmel. „In welcher Richtung ist es am schlimmsten? Wir müssen ihn schnellstens finden.“
Ich sah die Fifth Avenue hinauf. Die gewaltigen, gläsernen Bürokästen leuchteten und glitzerten unsicher. Dunkelgrüne Wolken brachen sich auf ihrem Grau, als würden sie von dort aus zum Himmel aufsteigen. Ich warf einen Blick auf die 42. Straße und die großen Bögen des Transportzentrums. Ich sah die Fifth Avenue hinunter, an den steinernen Löwen der Bibliothek vorbei und dann nach Westen, wo die Neonlichter Amüsement versprachen. Die Dunkelheit kam wie mit Zähnen auf mich zu, wie ein riesiger Schlund. Schwer zu beschreiben.
„Mann, es ist schlimm.“ Ich schlotterte. „Es kommt aus allen Richtungen. Aus der ganzen Stadt!“
„Das kann nicht sein“, sagte Ahmed. „Es ist laut. Wir müssen ganz in der Nähe des Opfers sein.“
Er führte sein Armbandfunkgerät an den Mund und drückte den Signalknopf.
„Statistik bitte.“
Eine Stimme erwiderte: „Statistik.“
Ahmed sagte langsam: „Dies ist ein Notruf. Hier spricht Rettungsbrigadier vierundfünfzig B. Geben Sie mir die heutigen Krankenhausaufnahmen, alle Zunahmen über Sigma entsprechend dreißig. Einkreisen die Zentren aller Gebiete mit einem scharfen Anstieg …“ – er sah mich durchdringend an – „… von Schwindelanfällen, Erschöpfungserscheinungen und akuten Depressionen.“ Wieder musterte er mich. „Überprüfen Sie allgemeine Angstzustände und Hypochondrie.“ Dann wartete er darauf, daß die Statistikabteilung die entsprechenden Daten zusammenstellte.
Ich fragte mich, ob ich nun stolz sein oder mich darüber schämen sollte, daß ich mich krank fühlte.
Ahmed wartete. Er war schlank, tüchtig, ungeduldig und hatte schwarze Augenbrauen und ebensolche, dazu durchdringende Augen. Er sah beinahe aus wie damals, als er zehn und ich neun gewesen war. Seine Eltern waren Emigranten, sprachen irgendeine nichtamerikanische Sprache. Sie gehörten der stolzen Sorte an. Wenn andere vor Haß oder Liebe in einem Kampf oder um eine Freundschaft erglühten, konnten Ahmed nur Ideen in Brand versetzen. Und seine Einfalle beim Spielen hatten ihn zum König unserer Straßenbande gemacht. Er hatte uns in die tollsten Abenteuer geführt und in Gegenden gebracht, die nur Erwachsenen zugänglich waren, damit wir was zu sehen bekamen, und wenn wir in der Falle saßen, brachte er uns entweder mit schnellen Schritten aus ihr heraus oder legte die Erwachsenen mit Worten herein. Und ich entschied, ob ein Ort gut oder schlecht war. Wo es ungut aussah, gingen wir nicht hin. Wenn Ahmed mich zu Rate zog und mich fragte, wie der oder der Ort auf mich wirkte, war ich immer stolz gewesen.
Und dann war er an uns vorbeigestürmt. Wir flogen alle aus der High School, aber Ahmed bekam gute Noten, graduierte und qualifizierte sich für eine gehobene Ausbildung. Die übrigen Mitglieder unserer Bande hatten alle ihre Erwachsenenrente bekommen und die Stadt verlassen. Außer Ahmed und mir. Und ich wußte, daß Ahmed die beste Spürnase der Rettungsbrigade geworden war.
Das Armbandfunkgerät pfiff, und er hielt es sich ans Ohr. Die dünne Stimme rasselte Zahlen und statistische Begriffe herunter. Ahmed sah sich die an uns vorübergehenden Leute an. Er schien überrascht zu sein. Schließlich schenkte er mir einen respektvollen Blick. „Es ist ganz Manhattan. Frauen kommen mit eingebildeten Schwangerschaften in die Hospitäler. Wirklich schwangere Frauen werden eingeliefert, weil sie Alpträume haben. Männer bilden sich Geschwüre und
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