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Der ewige Gaertner

Der ewige Gaertner

Titel: Der ewige Gaertner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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denn er wusste – darauf hatte sie ihn hingewiesen –, dass er nicht mehr imstande wäre, sich wieder anzuziehen, wenn er sich einmal ausgezogen hatte. Das Hemd war verschmutzt, das Jackett mit Erbrochenem beschmiert, aber es gelang ihm, die Sachen halbwegs sauber zu wischen. Am liebsten hätte er geschlafen, doch das ließ sie nicht zu. Er versuchte sich die Haare zu bürsten, bekam aber die Arme nicht hoch genug. Sein Bart war vierundzwanzig Stunden alt, doch daran ließ sich nichts ändern. Vom Stehen wurde ihm schwindlig, und er schaffte es gerade noch bis zum Bett, ehe er umkippte. Dort lag er halb ohnmächtig, folgte aber Tessas Rat und rührte das Telefon nicht an; er meldete sich weder bei der Rezeption noch rief er bei Dr. Birgit an, um deren medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vertraue niemandem, sagte Tessa, und er gehorchte. Er wartete, bis seine Welt wieder ins Lot gekommen war, dann stand er auf und taumelte durchs Zimmer, dankbar, dass es so erbärmlich klein war.
    Den Regenmantel hatte er über einen Stuhl gelegt. Er war noch da. Ebenso, zu seiner Überraschung, Birgits Umschlag. Er öffnete den Schrank. Der Safe in der Rückwand war verschlossen. Als er das Datum seines Hochzeitstags eintippte, schmerzte die Hand bei jeder Bewegung so sehr, dass ihm beinahe schwarz vor Augen wurde. Die Tür sprang auf; Peter Atkinsons Pass schlummerte immer noch friedlich im Safe. Mit seinen geschundenen, offenbar aber nicht gebrochenen Händen zog er das Dokument mühsam heraus und schob es in die Innentasche seines Jacketts. Dann kämpfte er sich in den Regenmantel und schaffte es, ihn am Hals und vorm Bauch zuzuknöpfen. Entschlossen, mit wenig Gepäck zu reisen, hatte er nur eine Umhängetasche mitgenommen. Sein Geld war noch darin. Er holte das Rasierzeug aus dem Bad und seine Hemden und Unterwäsche aus der Kommode und warf alles hinein. Birgits Umschlag legte er obendrauf, dann zog er den Reißverschluss zu. Er führte vorsichtig den Riemen über die Schulter und winselte vor Schmerzen wie ein Hund. Seine Armbanduhr zeigte fünf Uhr morgens; sie schien noch zu funktionieren. Er wankte auf den Flur und schob sich an der Wand entlang zum Aufzug. Unten im Foyer fuhrwerkten zwei Frauen in türkischer Gewandung mit einem riesigen Staubsauger herum. Ein ältlicher Nachtportier döste hinter der Rezeption. Irgendwie gelang es Justin, seine Zimmernummer zu sagen und um die Rechnung zu bitten. Irgendwie schaffte er es, eine Hand in die Gesäßtasche zu stecken. Er zählte ein paar Geldscheine ab und legte noch, »nachträglich zu Weihnachten«, ein dickes Trinkgeld dazu.
    »Kann ich mir einen davon nehmen?«, fragte er mit einer Stimme, die er selbst nicht erkannte, und zeigte auf einen Keramiktopf neben der Tür, in dem mehrere Portiersschirme standen.
    »So viele Sie wollen«, sagte der alte Portier.
    Der Schirm hatte einen kräftigen Griff aus Eschenholz und reichte ihm bis an die Hüfte. Mit seiner Hilfe überquerte Justin den leeren Bahnhofsvorplatz. Als er die Treppe zum Bahnsteig erreichte, blieb er stehen, um sich auszuruhen, und entdeckte plötzlich, zu seiner Verblüffung, den Portier neben sich. Er hatte gedacht, es wäre Tessa.
    »Geht’s? Werden Sie’s schaffen?«, fragte der alte Mann besorgt.
    »Ja.«
    »Soll ich Ihnen eine Fahrkarte holen?«
    Justin drehte sich um, so dass der Alte ihm in die Hosentasche greifen konnte. »Zürich«, sagte er. »Einfach.«
    »Erster Klasse?«
    »Unbedingt.«
    * **
    Die Schweiz war ein Kindheitstraum. Vierzig Jahre zuvor war er mit seinen Eltern zum Wandern im Engadin gewesen; damals hatten sie in einem Grandhotel auf einem bewaldeten Stück Land zwischen zwei Seen gewohnt. Nichts hatte sich verändert. Weder das polierte Parkett noch die Buntglasfenster, noch das strenge Gesicht der Schlossherrin, die ihm sein Zimmer zeigte. Justin ruhte auf einer Liege auf seinem Balkon und sah dieselben Seen in der Abendsonne glitzern und denselben Angler in seinem Boot in den Dunst hineinrudern. Die Tage vergingen ungezählt, unterbrochen nur von Besuchen im Heilbad und vom Totengeläut des Gongs, der ihn zu einsamen Mahlzeiten inmitten flüsternder, betagter Paare rief. In einem alten Chalet in einer Seitenstraße ließ er von einem blassen Arzt und dessen Assistentin seine Prellungen versorgen. »Ein Autounfall«, erklärte Justin. Der Arzt sah ihn argwöhnisch durch die Brille an. Die junge Assistentin lachte.
    Abends nahm ihn seine Innenwelt gefangen, wie immer seit

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