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Der ewige Gaertner

Der ewige Gaertner

Titel: Der ewige Gaertner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Tessas Tod. Während er, über den Intarsientisch im Erker gebeugt, seine verletzte Rechte zwang, an Ham zu schreiben, zwischendurch den Nöten Markus Lorbeers nachsann, von denen Birgit ihm erzählt hatte, und sich dann behutsam wieder dem Freundschaftsdienst für Ham zuwandte, begann in Justin das Gefühl Gestalt anzunehmen, dass er sich endlich auf dem richtigen Weg befand. So wie Lorbeer, der Büßer in der Wüste, der seine Schuld durch Verzehr von Heuschrecken und wildem Honig zu tilgen suchte, war auch Justin allein mit seinem Schicksal. Aber er war entschlossen. Und auch geläutert. Er hatte nie angenommen, dass seine Suche zu einem guten Ende führen würde. Dass es ein gutes Ende überhaupt geben könnte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Tessas Mission fortzuführen – ihr Banner zu tragen und sich ihren Mut zu eigen zu machen –, das war ihm Ziel und Zweck genug. Sie hatte von einer himmelschreienden Ungerechtigkeit erfahren und war in den Kampf gezogen. Zu spät hatte auch er davon erfahren. Ihr Kampf war der seine.
    Aber wenn die Erinnerung an die ewige Nacht unter der schwarzen Kapuze hochkam und er wieder sein Erbrochenes roch, wenn er an die systematische Misshandlung seines Körpers dachte, an die ovalen, gelben und blauen Abdrücke, die er wie bunte Notenzeichen auf Brust, Rücken und Oberschenkeln trug, empfand er noch eine andere Art von Verwandtschaft. Ich bin einer von euch. Ich kümmere mich nicht mehr um die Rosen, während ihr über eurem grünen Tee die Köpfe zusammensteckt. Ihr braucht eure Stimmen nicht mehr zu senken, wenn ich komme. Ich sitze mit euch am Tisch und sage ja .
    Am siebten Tag bezahlte Justin seine Rechnung und fuhr, ohne sich selbst genau Rechenschaft darüber abzulegen, was er vorhatte, mit Postbus und Bahn nach Basel, in jenes sagenhafte Tal am Oberrhein, in dem die Pharmagiganten ihre Festungen haben. Und im dortigen Postamt, einem mit Fresken geschmückten Palast, schickte er einen dicken Umschlag an Hams alten Drachen in Mailand ab.
    Dann zog er los, zu Fuß. Das Gehen tat weh, aber das konnte ihn nicht aufhalten. Zunächst ging er einen mit Kopfstein gepflasterten Hügel hinauf in die mittelalterliche Altstadt mit ihren Glockentürmen, Handelshäusern, Statuen von Freigeistern und Märtyrern aus Zeiten der Unterdrückung. Und nachdem er sich gebührend an dieses Erbe, oder was er dafür hielt, erinnert hatte, ging er zum Fluss zurück, blieb auf einem Spielplatz stehen und richtete fast ungläubig den Blick auf die wuchernden Betonburgen der Pharmamilliardäre, auf ihre anonymen Kasernen, die sich Schulter an Schulter dem feindlichen Individuum entgegenstellten. Orangefarbene Kräne fuchtelten rastlos über ihnen herum. Weiße Schlote, stummen Minaretten gleich, manche oben mit Karomuster, andere gestreift oder in Leuchtfarben gestrichen, zur Warnung des Flugverkehrs, stießen ihre unsichtbaren Gase in einen braunen Himmel. Und zu ihren Füßen erstreckten sich Eisenbahngleise, Rangierbahnhöfe, Lastwagenparks und Kaianlagen, jeweils geschützt von einer eigenen Berliner Mauer mit Stacheldraht obendrauf und mit Graffiti verziert.
    Von einer Macht getrieben, für die er längst keine Erklärung mehr suchte, überquerte Justin die Brücke und streifte wie im Traum durch ein düsteres Ödland aus heruntergekommenen Wohnsiedlungen, Secondhand-Kleiderläden und hohläugigen Gastarbeitern auf Fahrrädern. Und gelangte schließlich unversehens und doch wie von einem Magnet angezogen in eine Straße, die auf den ersten Blick wie eine idyllische Allee aussah; an ihrem Ende befand sich ein begrüntes Tor, so dicht mit Kletterpflanzen überwuchert, dass die Eichentür, der glänzende Klingelknopf und der Briefkasten aus Messing zunächst kaum zu erkennen waren. Erst als Justin den Blick weiter nach oben richtete, bis hinauf in den Himmel über ihm, gewahrte er das kolossale Triptychon aus weißen Hochhäusern, die durch freischwebende Korridore miteinander verbunden waren. Das Gemäuer war klinisch sauber, die Fenster aus kupferfarbenem Glas. Und irgendwo hinter jedem dieser monströsen Türme stand ein weißer Schornstein, wie ein spitzer Bleistift in den Himmel gerammt. Und an jedem dieser Schornsteine prangten, in Gold und senkrecht übereinander, die Buchstaben KVH und zwinkerten ihm zu wie alte Freunde.
    Wie lange er dort stand, wie ein einsames Insekt am Fuß dieses Triptychons gefangen, hätte er weder in dem Moment noch später zu sagen vermocht. Manchmal kam es

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