Der ewige Krieg 02 - Am Ende des Krieges
Funkkanäle, und Marygay gestand jedem zehn Minuten zum Abschiednehmen zu. Die meisten brauchten nicht so lange. Nach einer guten Stunde hatten sich alle im Aufenthaltsbereich versammelt und richteten ihre Blicke auf einen großen Flachbildschirm, der Marygay auf dem Platz des Kapitäns zeigte. Wir hatten uns alle hundertachtundvierzig in eine »Liege«-Position auf dem »Boden« vor dem Monitor manövriert.
Marygay schaute uns an, den Daumen dicht über dem roten Knopf auf der Konsole. »Sind alle bereit?« Wir bejahten im Chor und unsere Reise begann mit beinahe militärischer Präzision. (Ich fragte mich, wie viele der Leute wussten oder vermuteten, dass der rote Knopf keine Verbindung zur Elektronik hatte und eigentlich nicht mehr als ein Ingenieurscherz war. Das Schiff startete automatisch und kannte seine Abflugzeit auf eine Millionstel Sekunde genau.)
Der Beschleunigungsdruck setzte langsam ein. Ich schwebte etwa einen Fuß über dem Boden und driftete sanft nach unten, während mein Gewicht im Lauf von zehn oder zwölf Sekunden zunahm. Ein schwaches Summen machte sich bemerkbar, das von nun an unser aller Leben als Hintergrundgeräusch begleiten würde: der winzige Rückstand der unvorstellbaren Gewalten, die uns aus dem Sonnensystem schleuderten.
Ich stand auf und kippte um. Den meisten anderen erging es nach Tagen oder Wochen in Null-Ge nicht viel besser. Sara nahm mich am Arm, und wir halfen uns lachend gegenseitig auf die Beine, indem wir zunächst ein wackliges Dreieck mit dem Boden bildeten und uns dann allmählich in eine parallele Position begaben. Ich ging vorsichtig in die Knie und richtete mich wieder auf, unter dem Protest von Muskeln und Gelenken.
Etwa hundert Leute setzten mit Bedacht einen Fuß vor den anderen und übten sich im Gehen. Die übrigen saßen oder lagen am Boden, zum Teil mit deutlichen Anzeichen von Angst oder gar Panik.
Man hatte sie darauf vorbereitet, was sie erwartete – dass sogar das Atmen anfangs beschwerlich sein würde. Diejenigen unter uns, die in den letzten Monaten immer wieder mal im Orbit gewesen waren, hatten keine Umstellungsprobleme. Aber für die anderen klaffte eben doch ein gewaltiger Unterschied zwischen Theorie und Praxis.
Marygay holte eine Ansicht des Planeten auf den Bildschirm. Anfangs drehte er sich einfach unter uns, eine weiß gesprenkelte Schneelandschaft, über der ein paar Wolkenfetzen schwebten. Die Passagiere begannen je nach Zustand zu jammern oder angeregt zu plaudern.
Nach ein paar Minuten hatten sich alle daran gewöhnt, dass sich das Schiff bewegte. Die Unterhaltung verstummte, und die Leute starrten schweigend auf den Bildschirm, fast in einer Art Hypnose.
Ein gekrümmter Horizont tauchte auf, und dann, auf der anderen Seite des Bildschirms, noch einer. Sie bewegten sich langsam aufeinander zu, bis der Planet nach fünfzehn oder zwanzig Minuten eine riesige Kugel war, die sichtbar schrumpfte.
Marygay kam die Treppe herunter gestolpert und setzte sich neben mich. »Leb wohl!«, wisperte sie. »Leb wohl!«, und ich wiederholte ihre Worte. Aber ich glaube, dass sie in erster Linie unseren Sohn meinte, während ich von einer Welt und einer ganzen Ära Abschied nahm.
Während der Planet immer kleiner wurde, überkam mich plötzlich eine merkwürdige Erleuchtung, geboren aus meinen Kenntnissen in Physik und Mathematik. Ich wusste, dass es einen Monat – 34,7 Tage – dauern würde, bis wir ein Zehntel der Lichtgeschwindigkeit erreichten und ganz offiziell ins Reich der Relativität eindrangen. Und dass Monate vergehen würden, ehe sich der Effekt manifestierte, wenn wir die Sterne betrachteten.
Aber in Wahrheit befanden wir uns bereits dort. Die gewaltige Kraft, die das Schiffsdeck in einen festen Boden unter unseren Füßen verwandelte, krümmte schon jetzt den Raum und die Zeit. Weder unser Verstand noch unser Körper reagierte empfindlich genug, um die Veränderung zu spüren. Doch die Beschleunigung zerrte uns langsam weg von der banalen Illusion, die wir Realität nannten.
Ein Großteil der Materie und Energie im Universum existiert – aufgrund extremer Masse oder Geschwindigkeit – im Land der Relativität. Wir würden schon bald dazugehören.
vierzehn
Das Bild von Mittelfinger blieb ein paar Tage auf dem Hauptschirm, ehe der Planet zu einem Klecks und dann zu einem hellen Stern schrumpfte und schließlich im heißen Glanz von Mizar verloren ging. (Am Ende des ersten Tages war Mizar nicht mehr als der hellste Stern am
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