Der Experte: Thriller (German Edition)
Intensität berührt gewesen, seiner ungezügelten Freude – und als er in dieser Nacht nach Hause kam, erwarteten ihn Harrys Handynummer und E-Mail-Adresse auf seinem Laptop. Geiger war ein Student der Empfindungen – ein Vermesser, ein Analytiker. Diese Eigenschaft hatte ihm geholfen, sein Handwerk zu meistern – die Fähigkeit, die Emotionen anderer zu empfinden, während er seinen eigenen Gefühlen entfremdet blieb. Bindungen und Vertrautheit eigneten sich zur Beobachtung und Auswertung, aber nicht zum Erleben. Als er jedoch im Auge von Harrys Gefühlssturm stand, war ihm keineswegs das Missverhältnis ihrer Beziehung zueinander entgangen – wie bedeutsam Geigers Präsenz in Harrys Leben war, ebenso wie seine Abwesenheit. Ohne es zu beabsichtigen, hatte er jemandem sein Zeichen außerhalb des Sitzungsraumes aufgeprägt. Während er nach Hause joggte, hatte er sich Ezra vorgestellt und sich gefragt, welcher Teil von ihm in dem Jungen lebendig sein könnte.
Mit zwei Fingerspitzen fuhr er den Rand der Vertiefung im Holz entlang und vermaß ihre Form mit einem Werkzeug, das genauso empfindlich war wie jedes andere Instrument auch. Geiger nahm den Halbmond, den er aus Wolkenahorn geschnitzt hatte. Er maß fünfzehn Zentimeter von einer Spitze zur anderen. Der Welleneffekt der Maserung verlieh ihm eine beeindruckende Strahlkraft und dreidimensionale Eigenschaften.
Dieses Holz gehörte zu seinen besten Funden – die unversehrte Rückwand eines Kleiderschranks, der bei einem Brand beschädigt worden war. Das Material reichte noch für ein Dutzend weitere Intarsien. Seine Wanderungen durch die Secondhand-Möbelgeschäfte und Baumärkte der Vorstädte waren ein Überrest aus seinem alten Leben – in den Regalen und Lagerhallen nach weggegebenen, unerwünschten Schätzen zu suchen, etwas Verzogenem, Beschädigtem, aber keineswegs Nutzlosem. Sein Blick übersah so etwas nie.
Geiger wandte sich seinen vollendeten Arbeiten zu. An den Wänden standen zwei Schreibtische, drei Esstische und ein Kleiderschrank – alle aus dunklen Hölzern, aus Mahagoni, Schwarznussbaum, ostindischem Palisander. Jede hatte Dutzende heller Intarsien aus Ulme, Roteiche oder Espe, hier groß wie eine Grapefruit, dort klein wie eine Nuss. Er schuf ein Universum. Jedes Stück zeigte einen Teil des Nachthimmels – Sterne, Planeten, Sternbilder, Nebel, den Mond in unterschiedlichen Phasen vor tiefer Dunkelheit –, den Himmel, den er endlos betrachtet hatte, als er ein Kind gewesen war, für die Welt unsichtbar und ihr unbekannt.
Er strich über die Seiten der Intarsie und rieb die Fingerspitzen gegeneinander, um zu bestimmen, wie viel von seiner Mischung aus Bienenwachs und Tungöl noch vorhanden war. Vor dem Ölen wurde jedes Teil dreimal abgeschliffen, um den natürlichen Zustand der Oberfläche wiederherzustellen – tranceartige Prozeduren. In all den Jahren, in denen Geiger seinem Vater bei der Arbeit zusah, hatte dieser kein einziges Mal eine Regel verkündet. Einfach gesagt, machte man es eben so und nicht anders.
Er hörte sich, wie er in der vergangenen Nacht zu Harry gesagt hatte: »Keine Sorge, Harry. Kein IR. Damit bin ich fertig. Komplett.« Er war vor neun Monaten zu dieser Entscheidung gekommen, während Dalton ihn bearbeitet hatte, doch bisher hatte er es noch nie laut ausgesprochen. Damit bin ich fertig. Komplett. Diese Feststellung hatte etwas Reinigendes, wie ein ätzendes Mittel, das die letzten anhaftenden Reste eines toxischen Schlamms in ihm wegfraß. Niemals würde er wieder dorthin zurückkehren.
Er setzte den Halbmond aus Wolkenahorn in die Vertiefung ein und drückte, bis fünf Zentimeter übrig blieben, dann nahm er ein Polierleder und legte es über die Intarsie. Er nahm den Holzhammer, als der Kater zu ihm kam und sich an ihm rieb.
»Jetzt nicht, Tony.«
Der Kater hatte sich angepasst. Geiger hatte eine Katzentür in ein Fenster eingebaut, und das Tier hatte seine nächtlichen Streifzüge wieder aufgenommen und kehrte wie immer gegen fünf Uhr morgens zurück. Mit seinem einen Auge blickte es zu Geiger hoch und kratzte ihn an der Wade. Geiger nahm ihn hoch und legte ihn sich über die Schulter. Er streichelte die Narbe, wo das rechte Auge gewesen war, und das Tier sank auf seinem Ruheplatz zusammen. Sein Schnurren klang in Geigers Ohr wie ein Motor.
Er hatte den Kater »Tony« zu nennen begonnen, nachdem sie in die ehemalige Kirche gezogen waren. Ezra hatte es vorgeschlagen – eines von
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