Der Experte: Thriller (German Edition)
undeutliche Priesterkragen aus Nebel, und die Rue Antoine de Saint-Exupéry wirkte wie eine Hinterhofkulisse in Hollywood – eine perfekte Nachbildung des echten Vorbilds, wobei die kleinen, breiten, weiß getünchten Häuser aber nur Sperrholzfassaden waren, hinter denen sich nichts befand und in denen niemand wohnte. In Mathesons Keller hatte Harry die Möglichkeit eines Neuanfangs verspürt – und dies nun fühlte sich so an, als sei es ein Teil davon. Vielleicht bedeutete ein Neuanfang, unerledigte Dinge ruhen zu lassen – Dinge, die von ihrem natürlichen Platz weggerissen worden waren und nun bei der kleinsten Laune von der Vergangenheit in die Gegenwart trieben und zurück …
Höchstwahrscheinlich lag es daran, dass er den Kopf voller Gedanken hatte: Als er sich dem weißen Kastenwagen näherte, nahm er nur beiläufig wahr, dass der mit offener Seitentür am Straßenrand parkte. Jemand hat vergessen, ihn abzuschließen, dachte er, vielleicht ein Betrunkener oder ein Tagträumer oder eine traurige Seele, die mit den Gedanken woanders war. Die Idee, dass mehr dahinterstecken konnte, kam ihm erst, als ihn zwei Hände von hinten packten, nach unten drückten und in den Wagen stießen. Als er mit Gesicht und Händen gegen den Rücksitz prallte, ergriffen ihn zwei weitere Hände bei den Schultern und zerrten ihn tiefer in den Laderaum. Er spürte das volle Gewicht des ersten Angreifers, der ihn fixierte. Er roch den typischen Mietwagengeruch – das leichte Pfefferminzspray, das man in den Innenraum sprühte, ehe das Fahrzeug an den nächsten Kunden ging.
»Jetzt«, sagte ein Mann mit elegantem französischen Akzent – gab es einen, der nicht elegant war? –, und als die Nadel in seinen Hals stach, bekam Harry den Hauch von einem vertrauten Geruch in die Nase: Propofol. Im Laufe von elf Jahren hatte er es Dutzenden von Joneses injiziert. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätte er die darin liegende subtile Ironie zu schätzen gewusst, doch im Moment zählte der Detailversessene in ihm die Sekunden, die ihm noch blieben, bis er das Bewusstsein verlor. Es waren nicht mehr als sieben oder acht, aber mehr als genügend, um den erstaunlichen Umfang seiner Dummheit zu überdenken. Und dann – war er einfach nicht mehr da.
Als der Franzose von draußen hereinkam, blickte der junge Nachtportier von dem Anatomielehrbuch auf dem Empfangstisch auf und rieb sich die müden Augen. »Bonsoir, Monsieur …«
Victor deutete auf die Reihe der Zimmerschlüssel. »Quarantehuit. «
»Ah. Monsieur …« – er blickte auf den Computermonitor neben dem dicken Wälzer – »Fontaine.« Er nahm den Schlüssel vom Brett und reichte ihn dem Franzosen. »Bonne nuit, Monsieur.«
» Bonne nuit. «
Der Aufzug wartete. Er ging hinein, drückte die 4 und fuhr hoch. Gähnend blickte er auf die Uhr. Zwanzig nach eins. Als er als junger Mann im Hafen gearbeitet hatte, war er »Diamant« genannt worden – weil er härter war als Stein und niemals müde wurde. Jetzt konnte er noch immer rund um die Uhr arbeiten und einen klaren Kopf bewahren, doch sein Körper sandte ihm Botschaften – mit Gähnen und Muskelzuckungen protestierte er gegen die Missachtung des Alters durch den Geist.
Victor blickte auf und sah sein Spiegelbild in der polierten Messingwand – ein leicht schiefes Stirnrunzeln, die erhobene rechte Braue ein Halbmond über dem Auge. Eine Frau in Köln, die er eine Woche lang gehabt hatte, hatte gemeint, dass er immer aussähe, als rätselte er über irgendetwas nach – und sei deswegen nicht erfreut. Sie war der Wahrheit näher gekommen, als sie ahnte. Aber sein Auftrag verlief gut. Schritt eins – erledigt. Jetzt Schritt zwei. Schritt drei würde am schwierigsten werden, aber seine einzigartigen Elemente waren spannend. Nach all den Jahren war das nur positiv. Die Aufzugtür öffnete sich, und er ging zu seinem Zimmer.
Matheson saß am Zimmerschreibtisch vor seinem Laptop und las die erste E-Mail des Whistleblowers zum hundertsten und letzten Mal und versuchte, noch einen besseren Eindruck von ihrem Verfasser zu erhalten. Vor zwei Stunden hatte er die Information zu ihrem Treffen versendet, zehn Minuten später war die Antwort eingetroffen:
Ich glaube, 12 Uhr ist für mich besser, nein? Mehr menschen dann. Mehr menge, ich mich fühle sicherer. Sagen Sie mir.
Matheson gefielen die Überlegungen und die Sorge. Sie kamen ihm aufrichtig vor. Er hatte zustimmend geantwortet und nach wenigen
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