Der Experte: Thriller (German Edition)
schicken, seinen Laptop vernichten und schließlich ein letzter Gang in die Stadt. Dann zur Endstation des Busses am New Yorker Hafenamt, wo vor sechzehn Jahren alles begonnen hatte. Die Hand des Busfahrers, der ihn an der Schulter rüttelte – »Hier geht’s nicht mehr weiter, mein Sohn« –, ihn ohne Erinnerung oder Identität weckte, ohne Bedürfnis nach Gemeinschaft, in sich verschlossen wie eine Insektenpuppe ohne den Drang, sich zu öffnen.
Er trat von dem Tisch zurück. In der mattierten Oberfläche konnte er sein Spiegelbild sehen, aber die Natur des Holzes kaschierte alle Einzelheiten. Es hätte jeder sein können.
Christine sah zu, wie er sich den letzten Rest des Coq au Vin auf den Teller schaufelte und aß. Sein Leibgericht. Harry lehnte sich zurück.
»War nie besser. Magnifique .«
»Hab es seit Jahren nicht mehr gemacht.« Sie nahm ihr Glas mit Wasser und trank einen Schluck.
»Du kannst Wein trinken«, sagte er. »Für mich ist das kein Problem.«
»Ja?« Als Harry nickte, stand sie auf und verschwand in der Küche. Er musterte den Raum. Das einstöckige Vierzimmerhaus lag eine halbe Stunde nördlich des Cafés in einem stillen Viertel an der Rue Antoine de Saint-Exupéry. Ihre Eltern hatten es vor dreißig Jahren gekauft, und Christine hatte seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr viel daran verändert. Das Sofa und die Geschirrspülmaschine sahen neu aus, doch der Rest kam ihm bekannt vor, endlos verwohnt, und die Heizkörper beschwerten sich noch immer lautstark über ihre Vernachlässigung. Er hörte, wie sie eine Flasche entkorkte. Er hatte ihr erzählt, dass Lily tot war, aber nicht das Wie und Warum. Aus welchem Grund auch immer schien Christine anzunehmen, dass er noch immer für die Times arbeitete, und er hatte nichts gesagt, was diesen Irrtum richtigstellte. Sie kehrte mit einem Glas Rotwein zurück.
»Nach draußen?«, fragte sie.
Harry stand auf, und sie durchquerten das Wohnzimmer. Ihm fiel auf, dass er nirgendwo eine Fotografie gesehen hatte, von niemandem. Christine öffnete eine Glastür, und sie traten ins Freie, auf eine halbkreisförmige Steinterrasse. Die Feuchtigkeit des Abends bewahrte einen Hauch der Wärme des vergangenen Tages. Der Lichtschein von drinnen warf Schatten auf den kleinen Hof, die schwärzer waren als die Dunkelheit. Er konnte den Umriss des Zauns ausmachen und die Eichenbank, auf der sie sich, weil Christines Bettfedern zu laut quietschten, im Sitzen geliebt hatten, nachdem ihre Eltern schlafen gegangen waren – lautlos, seine Hand über ihrem Mund, als sie kam. Sie hatten keine Möglichkeit, es je sicher zu wissen, doch später hatten sie entschieden, dass Sophie in dieser Nacht gezeugt worden sein musste.
Christine trank von ihrem Wein und musterte Harrys Profil. Seine Sanftheit hatte immer zu seinem Gebaren gepasst, doch seine Gegenwart war wie ein Wirbelsturm, der unterschiedlichste Dinge in ihr aufpeitschte und umherwarf.
»Woher hast du die Narbe?«, fragte sie.
Harry wandte sich ihr zu, hob dabei die Hand an die Stirn und legte die Fingerspitzen an den dünnen, fünf Zentimeter langen Saum, der aus seinem Haaransatz hervorsprang. Carmine hatte sie Harrys Kainsmal genannt.
»Jeder sollte eine haben«, hatte er gesagt. »Sie sagt der Welt, dass man seine Schulden bezahlt hat – also komm mir nicht in die Quere! «
Harry grinste. »Ich habe überlegt, ob ich den Leuten erzählen soll, ich hätte die Ehre einer schönen Jungfrau mit dem Degen verteidigt, aber ich wurde im Central Park überfallen. Ein Jahr, nachdem du fort warst. Ich war betrunken. Sie hätten mich umgebracht – aber jemand kam vorbei und hat sie fürchterlich zusammengeschlagen. Ein Mann namens Geiger.«
»Mein Gott, Harry …«
»Er hat mir das Leben gerettet.«
»Geiger? Wie der Zähler?«
»Hm-hmm. Wir wurden Freunde. Enge Freunde.« An einem Haus jenseits des Zaunes wurde ein Fenster dunkel. Das zog ihn zurück in eine andere Zeit, in der er sich leichter gefühlt hatte, frei von Müdigkeit, und ihm war auch kein Zirkel aus Gespenstern auf Schritt und Tritt gefolgt. »Hier ist es wirklich schön.«
»Es ist Jahre her, seit jemand mit mir hier draußen war.«
Sein Kopf neigte sich langsam zu ihr. Sie kam ihm nicht entgegen, doch sie wich auch nicht zurück, daher machte er weiter – und ihre Lippen trafen sich in einem Kuss. Als dessen fünfsekündiges Leben halb vorüber war, klopfte Harrys Bewusstsein ihm auf die Schulter. Er richtete sich auf. Ein trübes,
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