Der Experte: Thriller (German Edition)
Später konnte sich das sogar als Vorteil für ihn erweisen.
»Haben Sie Anweisungen erhalten?«, fragte sie.
»Ja. Am Empfangstisch, als ich eincheckte.«
»Lassen Sie mich sie bitte sehen.«
Von nun an war alles nur Show, und zwar auf beiden Seiten. Er wusste es, Soames wusste es – und beide wussten, dass der andere es wusste. Ihre Zusammenarbeit war zweckbestimmt, Täuschung musste immer vorausgesetzt und gleichzeitig die Hoffnung aufrechterhalten werden, dass sie am Ende einander vielleicht helfen würden. Wie Carmine es gern ausdrückte: Vertraue deinen Freunden nie mehr als sie dir. Geiger hielt Daltons Brief vor die Kamera, damit Soames ihn sehen konnte.
Zanni nickte. »Alles klar.« Geiger ließ das Blatt sinken. »Herr Geiger, ich möchte Sie mit unserem Subunternehmer bekannt machen. Sie sollten sein Gesicht und seine Stimme kennen.«
Ihr Bild glitt vom Display, als sie das Gerät weiterreichte.
»Geiger«, sagte sie, »das ist Victor de Bran.«
Victors Gesicht trat ins Bild. »Guten Tag«, sagte er und nickte.
Geiger beobachtete, wie die Lippen sich leicht zu einem bescheidenen Lächeln krümmten. Wenn und falls die Zeit kam, wäre dies der Mann, der Dalton töten würde – und jeden, der diesem Ziel im Wege stand. Er hatte das Gesicht eines Handwerkers, eines Oberkellners, eines Schriftstellers, eines Polizisten … eines Jedermanns.
»Hallo«, sagte Geiger. Er hatte großen Respekt vor Gesichtern – vor der Wandlungsfähigkeit ihres Ausdrucks, vor ihrer Macht der Täuschung –, und er wusste, dass man einen ungeschönten Eindruck von einem anderen Menschen nur in dessen Augen fand. De Brans Augen waren dunkelbraun und glänzten, die trägen Lider beinahe halb herabgesunken. Ein sorgloser, maßvoller Blick mit einem Hauch von Reptil. Ein unkomplizierter Mann, dessen Selbstvertrauen in seiner Erfahrung wurzelte. Geiger hatte diese Eigenschaft oft bei Männern bemerkt, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, andere zu töten.
»Lassen Sie mich nur eines sagen, Herr Geiger – ich werde alles tun, was ich kann, um zu helfen.«
Als er damit begann, sein Leben dem Informationsabruf zu widmen, hatte Geiger eine Liste mit unterschiedlichen Kategorien von Lügen angelegt. Er hatte sie in einem seiner Ordner aufbewahrt und im Laufe der Jahre regelmäßig ergänzt sowie nach Zusammenhang und Grad der Perfektion im Vortrag verfeinert.
Das »Abstreiten«, die schlichte Erklärung von Unschuld oder Unwissen mit einem weiten Spektrum der Vortragsarten – von Empörung über Wagemut bis hin zur Verzweiflung.
Das »Fallenlassen«, bei dem eine kleine Portion Wahrheit oder Fakten in eine Lüge eingestreut wird, um die gesamte Behauptung als aufrichtig erscheinen zu lassen.
Der »Schwindel«, eine Lüge mit vielen Einzelheiten, deren schieres Ausmaß den Anschein von Wahrheit erweckt.
Und Dutzende weiterer Typen. Einige enthüllten wenig über die Aufrichtigkeit einer Aussage, aber einiges über den Sprecher, wie etwa der »Köder«. Er wurde von seiner Natur her fast immer unaufgefordert angeboten. »Wenn ich einfach mal anmerken darf, Herr Geiger …« Scheinbar spontan, wurde der Köder wohlbedacht eingesetzt und diente gezielt dazu, den Sprecher in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen und damit spätere Interaktionen vorzubereiten. »Ich werde alles tun, was ich kann, um zu helfen …« Ein Köder musste keine Lüge sein, aber er offenbarte, dass man einem manipulativen Menschen gegenüberstand. Je amateurhafter und unsicherer der Sprecher, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Nachfolgesatz den Haken fester verankern sollte. »Nur dass Sie es wissen« oder ein schlichtes »Okay?« oder »Alles klar?«. Daher wartete Geiger, doch er war fast sicher, dass de Bran gesagt hatte, was er hatte sagen wollen. Sie musterten einander, als ständen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie hätten an einem Pokertisch sitzen und darauf warten können, dass die nächste Karte aufgedeckt wurde.
»Ich verstehe«, sagte Geiger schließlich. Auf dem Bildschirm nahm Zanni wieder de Brans Stelle ein.
»Meine Vermutung lautet«, sagte sie, »dass Dalton Sie ein bisschen in der Gegend herumscheuchen wird. Wenn es Kontakt gibt, dann an einer Stelle, wo er sicher glaubt, dass niemand Ihnen gefolgt ist – von uns, meine ich.«
Geiger nickte. »Ich gehe unter die Dusche und schlafe. Ich habe lange nicht mehr geschlafen.«
»Gut. Melden Sie sich später?«
»Ja.«
Zanni
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