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Der Experte: Thriller (German Edition)

Der Experte: Thriller (German Edition)

Titel: Der Experte: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Allen Smith
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Ambivalenz.
    Zwei Stunden Flug lagen hinter ihm. Die Sitze in der Businessklasse waren breit und weich, doch Geiger musste dennoch alle fünfzehn Minuten aufstehen und den Gang abschreiten, damit der »Lahmfuß« nicht einsetzte – die Nadelstiche, die in seiner linken Hüfte begannen und sich bis in die Zehen ausbreiteten. In jeder Reihe waren zwei Sitze, und er hatte ursprünglich am Fenster gesessen. Nachdem er das vierte Mal aufgestanden war und sich wortlos an dem stämmigen Mann mittleren Alters vorbeigedrückt hatte, der auf dem Gangplatz neben ihm saß, hatte dieser ihn bei seiner Rückkehr höflich gefragt: »Machen Sie das den ganzen Flug über?«
    »Ja.«
    »Wäre es für Sie dann nicht einfacher, wenn Sie am Gang sitzen würden?«
    »Für mich spielt es keine Rolle, wo ich sitze.«
    »Wie wäre es, wenn wir tauschen würden?« Ohne auf seine Zustimmung zu warten, war der Mann auf den Fensterplatz gerutscht und hatte abgewartet, bis Geiger saß, ehe er versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen.
    »Sie müssen die Beine ausstrecken, was? Sicher. Langer Flug.« Geigers Schweigen beantwortete er mit einem Nicken. »Geschäft oder Vergnügen?« Er grinste Geiger an. »Oder beides?« Er fügte ein Zwinkern hinzu, als hätten sie eben Freundschaft geschlossen.
    Geiger wandte sich ihm ganz zu, und die Klinge seines starren Blicks spießte den Platznachbarn an der Rückenlehne auf.    
    »Es ist besser, wenn Sie mich nicht ansprechen«, sagte er.
    Sein Mitreisender, der nun mit einer Äußerung klarkommen musste, die durch ihre Unergründlichkeit ein Dutzend verschiedener Deutungen zuließ, entschied sich für ein unsicheres Lächeln und ein leises Lachen – so wie man vielleicht auf einen Witz reagiert, dessen Pointe man nicht verstanden hat.
    »Das ist mein Ernst«, sagte Geiger. »Ich möchte kein Gespräch mit Ihnen führen.«
    Der Mann nickte rasch mehrmals, wie eine Nickpuppe, wandte sich dem Fenster zu und schwieg seither.
    Geiger hatte alles gründlich durchdacht, und nun waren seine Gedanken im Fluss – ein Strom ohne Biegungen und mit stiller Oberfläche. Alles, was Präzision und Blick aufs Detail erforderte, war vorbereitet, und alle anderen Möglichkeiten der Zukunft befanden sich auf einer veränderlichen, minimal definierten Ebene. Er befand sich in einer Freiflugzone. Von nun an würde das, was im einen Moment geschah, den nächsten definieren. Blitzschnelle Reaktionen waren gefordert, und die Uhr tickte lauter als in jeder IR-Sitzung, die er je durchgeführt hatte.
    Das feuchte Schluchzen eines Kindes erregte seine Aufmerksamkeit. Als er die Augen öffnete, sah er einen Jungen von fünf oder sechs Jahren, der sich im Griff seiner Mutter wand, während sie den Gang entlanggingen. Er drückte seine Gefühle auf eine Weise aus, die letztlich ein Flehen um Gnade war.
    »Ich will aber nicht.« Er wies mit einem Fingerchen auf die Tür der Toilette.
    Seine Mutter blieb stehen. »Aber du hast gesagt, dass du musst – oder?«
    »Aber was, wenn ich dadrin bin, und das Flugzeug stürzt ab?«
    »Es wird nicht abstürzen, Schatz. Überhaupt nichts wird passieren.«
    Geiger empfand ein plötzliches, kurzlebiges Zucken, doch er war sich nicht sicher, ob es von außen oder von innen kam.
    Der Junge schüttelte den Kopf, und ihm kamen die Tränen. »Komm mit mir rein.«
    Die Mutter lächelte und öffnete die Tür. »Guck mal – siehst du? Das ist furchtbar eng da, oder? Wo soll ich da hinpassen?«    
    Das Murmeln und Rumpeln in der Kabine wurde leiser, die Lautstärke sank – als stellte Geigers Gehirn einen Regler hinunter –, und die menschlichen Stimmen schwollen an.
    »Dann will ich bei dir bleiben.«
    »Schatz, ich bin doch bei dir.«
    Die Muskeln in Geigers Nacken packten sein Rückgrat, und er zuckte nach hinten gegen den Sitz.
    Die Mutter kniete sich neben ihren Sohn und nahm sein Gesicht zwischen die Hände. »Ich bin bei dir. Das verspreche ich. Immer. «
    Geiger fielen die Augen zu. In ihm wälzten sich langsam Gefühle, krochen hoch und rutschten ab; die Schwerkraft des Gedächtnisses zog sie vor und zurück wie die Gezeiten, als ringe es mit der Anziehung eines uralten Mondes. Er bemerkte einen erdigen Duft. »You are the sunshine of my life …« Ein Puls innerhalb eines Pulses … Eine Hand in einer Hand …
    Geiger schlug die Augen auf. Der Junge und seine Mutter waren fort.
    Die Zugfahrt vom Flughafen Charles de Gaulle nach Paris dauerte eine halbe Stunde. Er entschied

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