Der Facebook-Killer
Teenager.
Er klickte auf ihr Bild am rechten Rand der Facebook-Benut-zeroberfläche. Streng seitengescheiteltes, dunkelbraunes Haar, Adlernase, weiße Bluse, schwarze Hornbrille, kleine Perlenstecker in den Ohren. Streng, businessmäßig, no nonsense. Das Chatfenster öffnete sich rechts unten.
Obenan, in weißer Schrift auf blauen Feld, der Name seiner Chatpartnerin:
DANIELLE KAHN.
Alle Namen hatten dort gestanden.
DANIELLE IST VERFÜGBAR.
Sein Avatar prangte darunter, ein weißer Mann mit zu langem, gegeltem, als Pferdschwanz getragenem Haar, in schwarzem Anzug mit schwarzer Krawatte auf weißem Hemd, lässig eine Kippe in der rechten Hand, die linke in der Tasche, an eine cremefarbene Wand gelehnt. John Travolta als Vincent Vega. Natürlich hieß der Mann nicht wirklich so. Vincent Vega war ein Charakter aus dem Quentin-Tarantino-Film
Pulp Fiction
, für dessen Darstellung Travolta nach langer Kinoabstinenz einen Oscar gewonnen hatte. Neben Gangsterboss Marsellus Wallace und dessen Frau Mia war er der einzige Charakter, der in allen Erzählbögen des verschachtelt erzählten Kultfilms aus den Neunzigern auftauchte. Außerdem, und das wussten nur echte Tarantino-Fans wie der über seine Tastatur gebeugte Mann, war er der Bruder Vic Vegas, einer Figur, die Michael Madsen in Reservoir Dogs, einem weiteren Tarantino-Film, verkörperte.
Vincent war ein Killer in Marsellus Wallaces Diensten. Seine Morde verübte er gemeinhin zusammen mit dem von Samuel L. Jackson dargestellten Jules Winnfield.
Vincent aß seine Steaks „blutig wie die Hölle“, war auf Heroin und verkörperte den typischen Killer mit Herz.
Doch all das war unerheblich. Diese, seine, facebookgeborene Inkarnation Vincent Vegas tötete auch, aber nicht für Geld oder im Auftrag eines Gangsterbosses. Dieser Vince Vega hatte eine Mission. Einen göttlichen Auftrag. Seine Finger flogen über die Tasten; in dem kleinen Kästchen wurden seine getippten Gedanken Botschaften, durchs weltweite Netzt lesbar gemacht in unmittelbarer Nähe.
VINCE VEGA
Hallo Danielle. Schön, dass du wieder mal on bist.
Ihre Antwort kam prompt:
DANIELLE KAHN
Auch schön, dich zu sehen, Vince.
Er legte den Köder aus.
VINCE VEGA
Sag mal … was ich dich immer schon mal fragen wollte: Warum hast du neulich einfach so meine Freundschaftsanfrage bestätigt?
DANIELLE KAHN
Das ist leicht zu erklären: Dein Bild und deine Profilseite haben mich neugierig gemacht. Warum ausgerechnet Travolta in der Rolle als Auftragskiller?
VINCE VEGA
Neugierig? Wusstest du nicht, dass Neugier die Katze tötete?
DANIELLE KAHN
Aber Katzen haben auch sieben Leben sagt man.
VINCE VEGA
LOL
DANIELLE KAHN
Lachst du mich aus?
VINCE VEGA
Keineswegs. Ich lache, weil ich schlagfertige Frauen mag. Du machst mich übrigens auch neugierig.
DANIELLE KAHN
So, so.
VINCE VEGA
Ja, ja. :-)
DANIELLE KAHN
Du hast meine Frage wegen der Profilbildwahl nicht beantwortet.
VINCE VEGA
Stimmt. Vielleicht maile ich dir ja mal ein echtes Bild von mir.
DANIELLE KAHN
Das wäre spannend …
Du, Vince … ich habe leider nicht so viel Zeit heute … ich muss mich noch umziehen …
VINCE VEGA
Bekommst du Besuch oder gehst du noch aus?
DANIELLE KAHN
… Besuch
VINCE VEGA
Lass mich raten: ein Mann.
DANIELLE KAHN
… Ja.
VINCE VEGA
Dein Mann?
DANIELLE KAHN
… Du bist ganz schön indiskret.
VINCE VEGA
Dein Mann?
DANIELLE KAHN
Nein. Noch nicht.
VINCE VEGA
Ich verstehe … du spannst ihn einer anderen aus?
DANIELLE KAHN
Wie gesagt: Indiskret.
VINCE VEGA
Nicht böse sein …
DANIELLE KAHN
*s* nein. Hör zu, ich muss jetzt wirklich off … vielleicht gehen wir ja mal einen Kaffee trinken oder so? Wäre nett, mal mehr von dir zu erfahren.
Danielle Kahn wandte sich von ihrem Laptop ab und klappte ihn im Umdrehen ein Stück zu, ohne ihn allerdings herunterzufahren. Facebook blieb aktiv.
Er tippte seine letzte Erwiderung, wohl wissend, dass sie sie nicht mehr lesen würde:
PASS AUF, WAS DU DIR WÜNSCHST, DRECKFOTZE
Dann schloss er sein weißes Asus-Netbook, legte es auf den Beifahrersitz und sah zum Fenster hinaus, hinüber zu der Villa, in der Danielle Kahn gerade von ihrem Schreibtisch aufstand, wahrscheinlich, um im Badezimmer zu verschwinden.
Als er gegen Mitternacht vor der Villa im 16. Arrondissement vorfuhr, sagte irgendetwas Nicolas de Ségur sofort, dass etwas nicht stimmte. Sicher, dies war eine vornehme Wohngegend, aber irgendwie schien ihm die kleine Nebenstraße des
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