Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
archäologische Werk ihres Gatten in dessen Geiste fortzuführen gedenke; unter vier Augen aber empfahl sie Emile Gilliéron, sich rasch einen neuen Broterwerb zu suchen, weil sie nicht im Sinn habe, ihr Vermögen weiterhin für homerische Phantastereien aus dem Fenster zu werfen.
Das fiel Emile Gilliéron leicht, über die Jahre hatte er sich eine komfortable Position als der beste, berühmteste und bestbezahlte Antikenzeichner Griechenlands erarbeitet. Zwar zerrann ihm das Geld zwischen den Fingern, denn seine große Familie hatte sich an eine gewisse Lebensart gewöhnt. Aber das französische Institut für Archäologie engagierte ihn regelmäßig als wissenschaftlichen Berater und Zeichner und schätzte seine Dienste, weil er, wenn man es von ihm verlangte, alle Schliemannschen Träumereien ablegen und handwerkliches Geschick mit größter akademischer Präzision und Gewissenhaftigkeit verbinden konnte. Nebenher erteilte er den Kindern des griechischen Königshauses Malunterricht und ging so oft im Palast ein und aus, dass die königlichen Hunde nicht mehr bellten, wenn er die Abkürzung durch den Schlossgarten nahm; im zweiten Jahr erteilte ihm die Königin die Erlaubnis, seine Hausschuhe im Vestibül zu lassen. Und als 1896 in Athen die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit stattfanden, beauftragte ihn Prinz Nikolaos im Namen des Olympischen Komitees, eine Briefmarkenserie für die griechische Post zu zeichnen.
Sein wichtigster Erwerbszweig aber war seit Schliemanns Tod die Anfertigung originalgetreuer Nachbildungen für den internationalen Markt. Es war deshalb ein schwerer Schlag, als das griechische Parlament 1899 ein Gesetz verabschiedete, das den Export antiker Artefakte sowie die Herstellung und den Verkauf von Imitaten bei Strafen von bis zu fünf Jahren Gefängnis untersagte. Zwar bereitete es Emile Gilliéron keine Schwierigkeiten, eine diskrete Produktion in unauffälligen Hinterhöfen aufrechtzuerhalten und die Ware auf klandestinen Wegen außer Landes zu schaffen; die Bestellungen aber gingen dramatisch zurück, weil große Museen wie das British Museum und der Louvre es sich nicht leisten konnten, Exponate mit unklarer Herkunftsbezeichnung in ihren Beständen zu führen.
Die Einkünfte schwanden, aber der Geldbedarf blieb hoch. Emile war kein junger Mann mehr, er ging aufs fünfzigste Lebensjahr zu und hatte sich einen kräftigen Spitzbart wachsen lassen, der nun allmählich weiß wurde, und er hatte sich an gewisse Annehmlichkeiten gewöhnt. Auch die Ehefrau, die Schwiegermutter und die Schwägerin hatten feste Ausgaben für den Haushalt und ihre persönlichen Belange, und Emile junior, der nun fünfzehn Jahre alt war und anfing, blaue Jacken zu tragen, besuchte das französische Gymnasium und ergab sich in der Freizeit den kostspieligen Vergnügungen der lokalen Jeunesse dorée.
Es war deshalb für Emile Gilliéron eine Erlösung, als Anfang April 1900 ein Brief aus Kreta eintraf, in dem er dringend um Hilfe bei Ausgrabungen gebeten wurde. Absender war ein englischer Privatier namens Arthur Evans, den Gilliéron in den achtziger Jahren auf den Grabungsfeldern von Tiryns und Mykene kennengelernt hatte. Emile wusste von Evans, dass er als Sohn eines erfolgreichen Papierfabrikanten eine großzügige Rente in Pfund Sterling bezog, die ihm in den bettelarmen Mittelmeerländern praktisch grenzenlosen Reichtum sicherte. Seit seine Ehefrau Margar eth in Alassio an Tuberkulose gestorben war, trug er ausschließlich schwarze Krawatten, benutzte Schreibpapier mit Trauerrand und streifte als einsamer, archäologisch interessierter Witwer über die Gestade des Mittelmeers.
Evans war extrem kurzsichtig und auf Armeslänge praktisch blind, weigerte sich aber aus Eitelkeit, eine Brille zu tragen. Wenn er eine Ausgrabungsstätte besuchte, tastete er sich, weil er den Boden nicht sehen konnte, mithilfe eines Stocks voran. Aus der Nähe hingegen sahen seine blauen Augen die Dinge in großer Schärfe und er erkannte oft Einzelheiten, die anderen entgingen.
Arthur Evans war ein kluger, feinsinniger und geduldiger Mensch. Seit den Schliemannschen Ausgrabungen war er vom Wunsch getrieben gewesen, seinem bis anhin so müßig verlaufenen Leben mit einer Entdeckung ähnlicher Tragweite die Größe zu verschaffen, die ihm bisher fehlte. Nach dem Tod seiner Frau war er nach Kreta gegangen und hatte südlich der Hauptstadt Candia auf dem malariaverseuchten Hügel von Kephala, wo schon lange die bronzezeitliche Siedlung
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