Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Antwort kann man bei Homer, Hesiod und Herodot nachlesen, die sind sich nämlich einig. Was sagen Sie, wer hat den größten und schönsten Palast auf Kreta gebaut?
König Minos, sagte Gilliéron und verbarg seine Ungeduld darüber, dass Evans ihn vorführte wie einen Schuljungen.
Sehen Sie. Und an welchem Ort auf Kreta könnte der Palast des Minos gestanden haben, wenn nicht hier? Hat man irgendwo auf dieser Insel eine Anlage von ähnlicher Pracht und Größe gefunden? Oder umgekehrt gefragt: Wer könnte diesen gewaltigen Palast hier sonst gebaut haben, wenn nicht König Minos?
Nachdem das geklärt war, machten sie sich an die Arbeit. Der große Tisch unter dem weißen Zeltdach war fortan Emile Gilliérons Arbeitsort, die Arbeiter brachten sämtliche Fragmente, die im Sieb hängen blieben, zu ihm. Arthur Evans erhöhte die Zahl der Arbeiter erst auf hundert und dann auf hundertvierzig. Für sich selbst ließ er ein Militärzelt am Rand des Grabungsfelds aufstellen und hisste davor den Union Jack.
Evans und Gilliéron waren vor Sonnenaufgang die ersten auf dem Grabungsfeld und abends in der Dämmerung die letzten. Die beiden Männer, die bis auf wenige Monate gleich alt waren, arbeiteten zusammen wie ein ungleiches Ehepaar. Was der kurzsichtige Evans im Detail entdeckte, setzte Gilliéron in die großen Zusammenhänge, die sie zuvor gemeinsam erträumt hatten. Der Boden war noch immer schwer und feucht von den winterlichen Regenfällen, die Anopheles-Mücken vermehrten sich prächtig. Gilliéron blieb von der Malaria verschont, aber Evans erkrankte heftig. Wenn er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, legte er sich vors Militärzelt, und die Arbeiter mussten ihm sämtliche Fundstücke für eine erste Begutachtung ans Feldbett bringen.
Trotz Schüttelfrost und Diarrhö verbrachte Evans auf Knossos in jenem Frühjahr 1900 die glücklichsten Tage seines Lebens. Die Funde übertrafen seine kühnsten Hoffnungen. Er hatte tatsächlich eine alte, zuvor unbekannte Hochkultur gefunden, die in ihrer Lebendigkeit und Verfeinerung Schliemanns Entdeckungen übertraf. Nicht nur hatten die Minoer schriftliche Zeugnisse hinterlassen – wonach Schliemann in Troja, Tiryns und Mykene vergeblich gesucht hatte –, auch zeugte ihre Bildsprache von einer Lust am Spontanen und Improvisierten, von einem Sinn für die flüchtige Schönheit des gelebten Augenblicks, gegen den alle Kunst der alten Ägypter, Sumerer und Griechen starr und maskenhaft erscheinen musste.
Kam hinzu, dass das minoische Inselreich Arthur Evans, den gebürtigen Engländer, in vielem an seine viktorianische Heimat erinnerte. Für ihn war offensichtlich, dass Knossos ganz wie London seinen Reichtum unmöglich den kargen Böden seines Umlands hatte abringen können. Daraus folgerte er, dass die Minoer wie die Briten ein Volk von Seefahrern und Handeltreibenden gewesen sein mussten, die ihr weltumspannendes Kolonialreich mit einer starken Militärmacht schützten. Und offensichtlich hatte das Reich des Königs Minos kurz vor dem Untergang, der ja dem viktorianischen Empire ebenfalls bevorstand, seine letzte und höchste Blüte erreicht – »ein Kleinod in die Silbersee gefasst, die ihm den Dienst von einer Mauer leistet«, wie es bei Shakespeare heißt.
Das größte Vergnügen bereitete Evans, dass alle Funde sich nahtlos in das Bild fügten, das er sich nach Homers Beschreibung vom Palast des Minos gemacht hatte. Das Labyrinth, die Freitreppe, der Thron – alles war da. Fehlte nur noch der Tanzsaal aus Alabaster, den Dädalus für Prinzessin Ariadne gebaut hatte, bevor er mit seinem Sohn Ikarus auf selbstgefertigten Flügeln durch die Luft entflohen war.
Die Aufregung war deshalb groß, als die Arbeiter am 3. und 4. Mai 1900 in einem frisch geöffneten Raum acht Fragmente eines Freskos fanden, die zusammengefügt einen zarten Torso von blauer Hautfarbe zeigten, der in gebeugter Haltung Arme und Beine eigentümlich verrenkte. Arthur Evans war auf den ersten Blick überzeugt, die Abbildung eines tanzenden Mädchens vor sich zu haben, also musste es sich bei dem Raum um Ariadnes Tanzsaal handeln; dies umso mehr, als der Boden aus weißem Alabaster bestand. Evans hielt diesen Befund in seinem Notizbuch fest, dann bat er Gilliéron um dessen Meinung. Dieser war es zwar längst gewohnt, seinem jeweiligen Brotherrn in allem den Willen zu lassen, empfahl aber doch, die Fragmente erst gründlich reinigen zu lassen. Nachdem dies geschehen war, musste Evans
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