Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Notos, jener sanfte, warme Südwind, der Sand von der Wüste Libyens übers Meer weht, dabei viel Feuchtigkeit aufnimmt und dem Himmel über Kreta eine schlimme gelbe Färbung gibt. Man kann sich die beiden Männer im Olivenhain vorstellen, wie sie schwitzend im Schatten eines weißen Zeltdachs an einem großen Tisch standen und eifrig wie Schulbuben beim Puzzlespiel viertausendjährige Fragmente hin und her schoben, die himmelblauen Stücke zu den himmelblauen legten und die scharlachroten zu den scharlachroten, und wie sie einander triumphierend die Hände schüttelten, wenn ein Stück nahtlos zum anderen passte. Solche Erfolge aber blieben selten, kleine zusammenhängende Partien waren immer umgeben von weiten Flächen gähnender Leere. Und weil der Mensch nun mal so beschaffen ist, dass er die Leere gedanklich nicht aushält, dauerte es nicht lange, bis Evans und Gilliéron Mutmaßungen darüber anzustellen begannen, was in den Lücken zwischen den Teilen, wo nur das Holz des Tischs zu sehen war, einst gewesen sein mochte.
Wir werden es nie wissen, sagte Gilliéron, der Gespräche dieser Art schon oft geführt hatte und nun die Gelegenheit beim Schopf packte, die Seelenmechanik seines neuen Arbeitgebers zu ergründen.
Natürlich nicht, sagte Evans. Aber wenn wir uns einfach mit den Bruchstücken zufriedengeben, wie wir sie hier vor uns haben, ist das doch zu armselig. Es sagt fast gar nichts aus, finden Sie nicht?
Das ist leider so, sagte Gilliéron.
Dabei braucht es doch nicht so furchtbar viel Phantasie, sich da und dort ein bisschen vorzustellen, wie die Zeichnung früher mal weiterging.
Gewiss.
Wo beispielsweise ein Knie ist, wird ja wohl ein Unterschenkel die Fortsetzung gebildet haben und dann wiederum ein Fuß, nicht wahr. Und am entgegengesetzten Ende des Beins wird sich mit einiger Wahrscheinlichkeit, Verzeihung, der Hintern befunden haben. Und wenn im Hintergrund acht Palmen stehen, ist es doch nicht abwegig, die Reihe bei Bedarf um eine neunte und eine zehnte Palme zu verlängern. Meinen Sie nicht?
Ich verstehe sehr gut, sagte Gilliéron. Ein bisschen was ausmalen kann man immer, schließlich hat die Welt ihre Logik. Ich gebe nur zu bedenken, dass rein wissenschaftlich nicht dasein darf, was nicht da ist. In der Wissenschaft zählen, wie Sie wissen, nur Fakten.
Ach, die Wissenschaft mit ihren Fakten, sagte Evans. Die ist auch voller Lücken.
Gewiss, sagte Gilliéron. Aber sie hat die Pflicht, diese Lücken zu deklarieren und mit ihnen zu leben, solange sie bestehen.
Im Gegenteil! rief Evans aus. Die Wissenschaftler sind doch die ersten, die ihr lückenhaftes Wissen mit Träumereien anreichern – anreichern müssen ! Gerade Archäologen und Geschichtsschreiber hätten doch überhaupt rein gar nichts zu erzählen, wenn sie sich streng an ihre empirischen Daten halten würden. Alle Wissenschaft ist Erzählung und überspringt von Faktum zu Faktum eine Wissenslücke nach der anderen. Die Fakten sind die unteilbaren kleinsten Teile der Wissenschaft, und zwischen ihnen klaffen Universen gähnender Leere. Oder kennen Sie einen einzigen Wissenschaftler, der bei der Deutung seiner Fakten ohne Metaphysik auskäme?
Keinen, bestätigte Gilliéron.
Wissen Sie, was von der Wissenschaft übrigbleibt, wenn sie sich streng an ihre Fakten hält und sich nichts ausmalt?
Nicht viel.
Gar nichts. Faktenhuberei. Nichts als öde, tote Faktenhuberei.
Da haben Sie wohl recht, sagte Gilliéron.
Sehen Sie, und darum sind wir verpflichtet, die Lücken zu füllen. Des Menschen Wissen ist immer lückenhaft, das ist unser Schicksal. Nur deshalb tragen wir letztlich Glaube, Liebe und Hoffnung in unseren Herzen – damit wir die Bruchstücke unseres Wissens in Beziehung zueinander bringen und daran glauben können, dass das alles hienieden einen Sinn hat. Meinen Sie nicht?
Ich bin ganz Ihrer Meinung, sagte Emile Gilliéron, der seinen neuen Arbeitgeber nun verstanden hatte und nur noch in Erfahrung bringen wollte, welcher Art die Bilder waren, die Arthur Evans in seiner Seele trug.
Sie glauben also, fragte er vorsichtig, dass wir hier den wirklichen Palast des Königs Minos vor uns haben?
Lassen Sie mich das ausführen, sagte Evans. Mir scheint offensichtlich, dass wir hier den größten und schönsten je auf Kreta erbauten Palast vor uns haben. Stimmen Sie mir zu?
Es sieht so aus, sagte Gilliéron.
Nun stellt sich die Frage nach der Bauherrschaft. Wer hat den größten und schönsten Palast auf Kreta gebaut? Die
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