Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
verstockt dreinblickt wie die meisten Verbrecher, sondern erschrocken. »Ein Künstler«, liest der Kripo-Beamte weiter vor, »Maler, Grafiker, Bildhauer. Seit 1945 in Hamburg, letzte bekannte Adresse: eine der Ley-Hütten an der Langenhorner Chaussee. Ist Ende 1945 zu einer Geldstrafe verurteilt worden, als Hundertfünfundsiebziger.«
»Dieses Wort habe ich in meinem Deutschkurs nicht gelernt«, unterbricht ihn der Lieutenant.
»Paragraf 175 stellt homosexuellen Verkehr unter Strafe«, erklärt der Oberinspektor. »Eine Regel aus der Kaiserzeit. Die Nazis haben den Paragrafen verschärft, und in dieser Form gilt er immer noch.« Dann pfeift er anerkennend. »Weber hat dann 1946 ein halbes Jahr gesessen, aber nicht, weil er einem Jungen schöne Augen gemacht hat, sondern weil er Lebensmittelkarten der 40. Zuteilungsperiode gefälscht hat. Mit Pinsel und Tusche auf Papier.«
»Nicht die gleiche Technik wie bei den Geldscheinen jetzt«, gibt MacDonald zu bedenken.
»Trotzdem ein Mann, bei dem sich eine Befragung lohnt«, erwidert Stave.
»Bekomme ich jetzt meine Belohnung?«, fragt Suchardt.
Der Oberinspektor verschwindet in Bahrs Büro. Dem Chefamt S ist es nach langem internen Ringen vor einigen Monaten offiziell erlaubt worden, Spitzel mit beschlagnahmten Waren zu belohnen. Stave informiert seinen Vorgesetzten kurz über den Fall.
»Geben Sie dem Kerl ein Pfund Butter aus unserem Depot sichergestellter Waren«, ordnet der an. »Wenn es wirklich so wichtig ist, wie Ihr englischer Offiziersfreund behauptet.«
»Sehr großzügig.« Für ein Pfund Butter muss ein Arbeiter sechs Wochen lang schuften.
»Wir haben kaum noch Spitzel, die uns etwas stecken. Wie gesagt: Niemand nimmt uns mehr ernst. Da können wir großzügig sein. Was werden Sie als Nächstes unternehmen?«
»Ich werde einen glücklichen Spitzel mit Butter schmieren und nach Hause schicken. Und dann werde ich einen Spaziergang über den Goldbekplatz unternehmen.«
Eine Stunde später steht der Oberinspektor im Nieselregen am Goldbekkanal in Winterhude: ein trapezförmiger Platz, fünf- und sechsgeschossige, hell verputzte Gründerzeithäuser auf zwei Seiten, gegenüber ähnlich hohe, aber bescheidenere Mietskasernen aus Backstein; an der Westseite des Areals, nahe der Alster, ragt die verlassene Chemiefabrik Schülke und Mayr auf, feuchtigkeitsfleckige Ziegelhäuser mit leeren Fenstern, eingetretene Türen, eingefallene Dächer, ein kollabierter Schornstein. Gutes Versteck, denkt Stave, für Schmuggelware oder auch für die Schieber selbst, falls mal eine Razzia droht. Die professionellen Händler, die in der Zeitung als »Ernährungsschädlinge« geschmäht werden, sind leicht an ihren guten Regenmänteln und den teuren Lederschuhen zu erkennen. Dazwischen Kinder, Hausfrauen, Angestellte, ganz normale Hamburger. Stave ist schon so oft auf dem Schwarzmarkt unterwegs gewesen, als Beamter ebenso wie als Kunde, dass er glaubt, die Gepflogenheiten dort zu kennen, obwohl er bislang immer die größeren illegalen Märkte auf dem Hansaplatz und an der Reeperbahn aufgesucht hat.
Doch diesmal scheint ihm etwas anders zu sein, und er braucht einige Augenblicke, um den Unterschied zu erkennen: Die Menschen gehen schneller. Kein langsames, vorgetäuschtes zielloses Herumschlendern wie sonst, keine bloß halb verborgenen Gespräche, kein Gefeilsche unter Regenschirmen und glänzenden Umhängen, keine hastig aufgeschlagenen Mäntel, keine versteckten Waren, die durch flinke Finger von Aktentasche zu Aktentasche fliegen. Alle Personen sind raschen Schrittes unterwegs. Eine Nervosität liegt über dem Platz wie elektrische Spannung vor einem Gewitter.
Der Oberinspektor lässt sich im Gedränge treiben. Schnell glaubt er, die Ursache der Hektik zu kennen: Viele potenzielle Käufer, wenige Waren. Verschwunden der Bohnenkaffee, von dem ein Kilogramm bis letzte Woche noch 300 Reichsmark kostete, das Fünfzigfache des Vorkriegspreises. Verschwunden die unterschlagenen Forellen, verschwunden das Penizillin aus alliierten Beständen, verschwunden die aus der Sunlicht-Siederei herausgeschmuggelte Seife.
Was die Schieber noch anbieten, ist entweder sehr teure oder sehr billige Ware – oder sehr heiße. Ein junger Mann zupft Stave am Ärmel, öffnet seinen Mantel und deutet auf ein Dutzend Glühbirnen, die aus den extra eingenähten Innentaschen des Stoffes blitzen. Der Kripo-Beamte muss an einen Diebstahl auf dem Hamburger Bahnpostamt in der vorletzten Woche
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