Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
unversehrt blieben. Oder Kunstwerke in Trümmerhäusern.
Das Winterhuder Fährhaus ist ein Ausflugslokal an der kastaniengesäumten Hudtwalckerstraße, direkt am Ufer der Alster: Jugendstil, ein Türmchen an der Ecke, ein verglastes Café am Bürgersteig. Hell erleuchtet wie ein Vergnügungsdampfer, Schatten hinter beschlagenen Fenstern. Das müssen Hunderte sein, vermutet der Oberinspektor erstaunt.
Er zwängt sich hinein, fünf Minuten vor acht Uhr. Miefige Luft, Dutzende trocknende Mäntel an den Garderobenhaken. Sein Herz schlägt bis zum Hals. Sein Blick schweift durch den Raum. Anna. Sie sitzt auf einem Holzstuhl in der letzten von zwanzig Reihen, die vor einem mit weißem Samt ausgeschlagenen Podium aufgereiht sind. Stimmengewirr, Zigarettenqualm, Parfumduft, Aufregung wie vor einer Premiere. Sie hat ihn noch nicht gesehen. Sie ist allein. Der Platz neben ihr ist noch frei. Stave springt, bevor sich im letzten Moment noch jemand anderer dorthin drängen könnte.
»Du?«, ruft sie. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen für einen Augenblick erschrocken geweitet, dann leuchten sie. Hoffentlich freut sie sich, denkt Stave. Wie schön sie ist. Ihr schlanker Körper, den er schon in den Armen halten durfte. Wie lange ist das her? Ihre glatten, schwarzen Haare, die wie Samt schimmern. Sie hat sie hochgesteckt, doch sie scheinen ihm noch länger zu sein als früher. Ob sie ihr bis zur Hüfte fallen würden? Er ist so durcheinander, dass er bloß stammelt: »Dein Haar ist lang geworden.«
Sie lächelt verwirrt. »Kein Friseur in der Stadt schneidet mehr die Haare, es sei denn, man schiebt Zigaretten über den Tisch. Nur Nattenheimer akzeptiert noch Scheine. Was machst du hier? Willst du auch deinen Sparstrumpf versilbern wie viele hier?«
Und was machst du hier?, hätte der Oberinspektor beinahe geantwortet. Die elende Eifersucht auf Ehrlich. Fang bloß nicht an, den Polizisten zu spielen, ermahnt er sich. »Ich bilde mich weiter«, antwortet Stave stattdessen und berichtet ihr in wenigen Sätzen von den Kunstwerken im Reimershof.
»Du bist nicht mehr bei der Mordkommission?«, unterbricht sie ihn.
»Das ist nichts mehr für mich.« Soll er ihr von der Schusswunde erzählen? Den Wochen im Krankenhaus? Von seinen Zweifeln? Zu dramatisch, irgendwie schämt er sich dafür vor ihr. Also belässt er es dabei.
»Gut«, antwortet sie. Nur ein Wort. Nicht einmal ein Lächeln. Doch Stave atmet durch und lehnt sich zurück. Das wird kein schlechter Abend, sagt er sich.
Das Raunen verstärkt sich, läuft wie eine Welle durch die Reihen, ebbt dann zu erwartungsvoller Stille ab.
»Nattenheimer«, flüstert Anna, als würde das alles erklären. »Sieh einfach zu. Wir reden später.« Sie hat ein Notizheft aus einer schmalen Handtasche gezogen – einer eleganten, ledernen Tasche, die Stave noch nie gesehen hat. Dazu eine getippte Liste. Ehrlichs Verzeichnis seiner geraubten Sammlung, vermutet der Oberinspektor. Doch er hält sich an das, was Anna ihm geraten hat, und schweigt.
Ein Mann springt mit elastischen Schritten auf das Podium, Anfang dreißig, eleganter Anzug. »Guten Abend«, ruft er, »ein herzliches Willkommen auch unseren Gästen aus anderen Zonen.« Die angenehm dunkle Stimme eines geübten Redners. »Allerdings«, der Auktionator lächelt entschuldigend, »wer ins Ausland reisen will, ist von der Versteigerung ausgeschlossen. Anordnung der Militärregierung.«
Er hebt das erste Schmuckstück hoch: »Gute, lupenreine Ware«, ruft er. Stave blickt fassungslos auf das Kollier in Nattenheimers Hand und fragt sich, wie solche Dinge noch im zertrümmerten Deutschland existieren können. »Fünfundzwanzig Brillanten, anderthalb Karat, Gold«, fährt der Auktionator mit schmeichelnder Stimme fort, »Gebote?«
Ein Moment der Stille. Niemand traut sich, das erste Angebot abzugeben. Schließlich hebt ein gelangweilt blickender junger Mann in der ersten Reihe die Hand. »Zehntausend!«, sagt er und klingt dabei fast gleichgültig. Für diese Summe müsste Stave die nächsten sieben, acht Jahre arbeiten. Wo hat der Kerl das Geld her?
Doch Nattenheimer lächelt bloß müde. »Dann lasst uns lieber Witze erzählen!«, ruft er. Ein paar Lacher im Publikum, Geraune.
»Elftausend!«, schreit jemand.
»Zwölf Mille.«
»Dreizehn.«
Bei neunzehntausend fällt der Hammer, Nattenheimer hat keine zwei Minuten gebraucht, um den Preis für das Kollier in die Höhe zu treiben. Nun holt er die nächsten Lose auf das Podium,
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