Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
auf.«
Fünf Minuten später braust Stave am Steuer eines asthmatischen, dunklen Wagens los und macht sich auf den langen Weg in Hamburgs nördliche Stadtviertel.
Der Oberinspektor schlängelt sich durch Harvestehude und Eppendorf. Manchmal passiert er nassglänzende Regenschirmwäldchen auf dem Bürgersteig: Menschenaufläufe hier und dort. Ungewöhnlich, denkt er, bremst ab und erkennt, dass sich die Passanten vor leeren Schaufenstern sammeln. Manche reden, gestikulieren, die meisten starren nur auf die verwaisten Auslagen der Geschäfte. Wird Zeit, dass der Tag X kommt, sagt sich Stave, sonst werden aus solchen Ansammlungen ganz schnell Demonstrationen. Er denkt an die Geldscheine vom Goldbekplatz und kann plötzlich MacDonalds Sorgen besser verstehen.
Nach einer Viertelstunde biegt der alte Mercedes von der Alsterkrugchaussee auf die Langenhorner Chaussee. Stave gibt Gas, denn er hat noch einige Kilometer vor sich, doch der Verkehr wird in den nördlichen Stadtteilen dünner. Der Mercedes keucht. Erst bei der Siedlung der Ley-Hütten bremst Stave ab, parkt und schließt umständlich Fahrer- und Beifahrertür ab. Besser so.
Die Ley-Hütten sind etwa zwanzig Quadratmeter kleine Holzverschläge: viereckig, ein schrägstehendes Dach, ein primitiver Fußboden, eine zugige Tür, keine Heizung, kein Bad. Schrebergartenlauben eher als richtige Häuser. Italienische Gefangene und Zwangsarbeiter haben sie ab 1943 aus billigstem Material errichtet, als Notquartiere für Zehntausende Ausgebombte. Im Volk heißen sie auch nach 1945 noch nach Robert Ley, dem Führer der Deutschen Arbeitsfront, der den Bau dieser Hütten organisiert hat.
An der Langenhorner Chaussee stehen Dutzende in mehreren Reihen, die Eingangstüren unter dem vorragenden Dach nach Norden gerichtet, die Fensterseite nach Süden – es wirkt, als drehten die armseligen Unterkünfte aus verwaschenem Holz der Stadt schamhaft den Rücken zu.
Zunächst zogen hier Familien ein, die durch die Fliegerangriffe ihre Wohnungen verloren hatten und nirgendwo anders unterkommen konnten. Doch in den letzten zwei Jahren sind viele wieder in der Stadt in bessere Unterkünfte gezogen. Wer geblieben ist, zählt zu den Leuten, die schon vorher wenig Geld hatten – außerdem sind hier Flüchtlinge aus dem Osten, gestrandete DPs, Kriegsheimkehrer ohne Familien untergeschlüpft. Eine Siedlung, die selbst in einer halb zertrümmerten Stadt noch als Elendsquartier gilt. Stave fragt sich, warum jemand wie Weber, der doch angeblich gutes Geld verdient, noch keine andere Bleibe gefunden hat.
Es ist inzwischen Mittag. Der Oberinspektor hat Hunger, doch er ist auch ungeduldig. Er fragt zwei Jungen in abgerissenen Hemden und zu kurzen Lederhosen, die Cowboy und Indianer spielen, nach Toni Weber.
»Haben Sie eine Zigarette?«, fragt der Ältere frech, der höchstens zehn Jahre alt ist. Sein jüngerer Freund heult dazu und schlägt mit der Hand auf den Mund, was wohl der Kriegsruf der Apachen sein soll – oder ein getarntes Hohngelächter. Der Kripo-Beamte hat keine Lust auf Ermahnungen und zieht wortlos eine John Players aus seiner Manteltasche.
»Da hinten wohnt der Weber. Das ist die wärmste Hütte weit und breit.« Der Bengel lacht spöttisch und deutet auf die Kiste, die am weitesten von der Langenhorner Chaussee entfernt steht, fast direkt am Rande eines Wäldchens. Sie ist als einzige frisch gestrichen, blau das Holz, weiß die Tür und die Fensterrahmen. Ein Garten darum, Rosen an Ranken neben dem Fenster, deren Blüten im grauen Nieselregen leuchten. Man kann schlechter wohnen, denkt Stave nun und beginnt zu verstehen, warum jemand hier bleiben möchte. Eine kleine Idylle – vorausgesetzt, man hat die Zeit, die Kraft und das Talent, die billige Behausung ständig zu pflegen und vor dem Elend in den Nachbarhütten die Augen zu verschließen.
»Ist ein hübscher Kerl, dieser Weber«, fährt der Junge fort und grinst.
Stave ignoriert ihn und läuft zur Hütte hinüber. Bevor der Oberinspektor an die Tür klopfen kann, wird diese geöffnet. »Ich habe Sie zufällig kommen sehen«, begrüßt ihn Weber, der müde und misstrauisch aussieht. »Ich bin auch gerade erst mit dem Zug aus Travemünde zurückgekommen. Verspätung, wie immer.« Er winkt ihn hinein. Dem ist es peinlich, mich vor seiner Bude stehen zu sehen, denkt Stave. Kann man ihm ja auch nicht verübeln. Er tritt durch einen Windfang hindurch in eine saubere, überraschend helle Kammer. Ein Bord, ein gemauertes
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