Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
Portal bis zur Ladefläche nicht nass werden. Einmal sieht ihn sein Nachbar und hebt zum Gruß den Schirm. Stave erwidert die Geste mit einer Hand.
Nachdem der letzte Lastwagen über den Alten Wall davongerumpelt ist, fahren einige Postautos vor. Auch sie werden mit Säcken vollgestopft. Dann Busse. Irgendwann müssen die Tresore doch leer sein, wundert sich Stave. Er muss bis 6.30 Uhr durchhalten, als endlich das letzte Fahrzeug vor der Landeszentralbank abgefertigt wird.
»Heim zu Muttern!«, ruft Cuddel Breuer. »Unsere Arbeit ist erledigt. Jetzt dürfen wir Geld tauschen!«
Während die meisten Kollegen eilig verschwinden, läuft Stave zum Bankgebäude. Vor einem britischen Militärpolizisten zückt er seinen Ausweis und gelangt so durch das Portal. Im Innern hält er den ersten Mitarbeiter an, der ihm über den Weg läuft. Aus seiner Manteltasche zieht er den Fünf- und den Zehn-Pfennig-Schein. »Ist das das neue Geld?«, fragt er den verblüfften Mann.
»Wo haben Sie das denn her?«, stammelt der Beamte. »Das dürfen Sie doch gleich erst eintauschen.«
Zwei Minuten später ist der Oberinspektor wieder draußen. Er betrachtet eine kleine Gruppe Schupos, die noch immer das Gebäude sichern. Die Männer haben ihre Tschakos tief in die Stirn gezogen, in der vergeblichen Hoffnung, sich so besser gegen den Regen zu schützen. Ruge. Er tritt zu ihm, sehr nah, flüstert bloß, damit es kein Kollege mitbekommt: »Hätten Sie heute Nachmittag Lust auf einen Abstecher?«
»In meiner Freizeit?«
»Ja. Und Sie sollten in Zivil kommen.«
»Ich bin dabei. Wohin soll es gehen?«
»Wir treffen uns um vier Uhr. Am Goldbekplatz.« Der Oberinspektor tippt zum Abschied mit dem Zeigefinger an den Hut und schlendert davon.
»Werden wir den Fall lösen?«, ruft ihm der junge Schupo hoffnungsvoll hinterher.
»Darauf können Sie Ihre neue Deutsche Mark wetten«, antwortet er.
Der Oberinspektor fährt zurück und verstaut sein Fahrrad. Die Wohnung ist leer. Karl ist erwachsen, mach dir keine Sorgen, sagt er sich. Er eilt zu seiner Lebensmittelkartenausgabestelle in der Nachbarschaft, um sich das neue Geld abzuholen.
Eine lange Schlange auf dem Bürgersteig, wohl dreihundert Meter oder mehr. Gestalten unter nassglänzenden Überwürfen, Hüten, Regenschirmen. Blaue Rauchfäden der Zigaretten in kühler Luft. Der Geruch nach alten Schuhen und ungewaschenen Körpern. Überall wird geflüstert, es ist wie ein elektrisches Summen, das die Luft füllt. Eine Spannung, halb wie vor einer Kinopremiere und halb wie im Wartezimmer eines Zahnarztes. Der Kripo-Beamte vernimmt nur geflüsterte Worte: »Deutsche Mark.« »Neue Töpfe.« »Wird nichts draus.« »Wieder trifft es den kleinen Mann.« »Amilappen.« »Neue Zeit.« »Nylonstrümpfe.«
Langsam kriecht die Menge voran. Wie viele Lebensjahre habe ich mit Schlangestehen vergeudet?, fragt sich Stave. Ob das je aufhören wird? Unauffällig sieht er sich um. Polizistenblick. Dann entspannt er sich ein wenig. Wirkt nicht so, als würde hier gleich Unruhe ausbrechen. Keine lauten Parolen, keine Rempler. Geduldig stehen Frauen und Männer im Regen, schicksalsergeben. Er hätte jetzt gerne einen heißen Ersatzkaffee getrunken.
Nach einer guten Stunde hat er den Eingang erreicht. An der Wand daneben klebt ein Plakat: »Bekanntmachung zur Währungsreform«. Niemand liest mehr die zwei Spalten Text. Vorwärts! Als hätte jeder Angst, dass genau vor seiner Nase das Tor zugeschlagen wird und man nicht mehr an das Geld kommt.
Er zeigt einem müden Ordner seinen bläulichen Personalausweis der Britischen Zone, dazu die aktuellen Lebensmittelkarten, um sich auszuweisen.
»Weitergehen«, murmelt der und winkt schon den Nächsten heran. Wer keine Papiere hat, der bekommt kein neues Geld. Wir werden heute mehr Illegale herausfischen als bei der größten Razzia, denkt Stave.
Geschiebe im Innern, stickige Luft, gedämpfte Stimmen. Mehrere Tische quer im Raum, wie eine Barriere. An jedem sitzen vier Angestellte der Stadt, an der Wand dahinter deutsche und englische Polizisten. Schilder über den Tischen teilen die Kunden alphabetisch ein. Der Kripo-Mann stellt sich in die Schlange vor »S–Z«. Über das Kopftuch der Frau vor ihm erhascht er einen Blick auf den Tisch: Karteikästen, Stempel, ein großes, schwarzes Telefon, bündelweise alte Reichsmarkscheine, abgegriffen, zerfleddert. Sie sehen wie Lumpen aus neben akkuraten, wie gebügelt wirkenden Stapeln neuer grüner, blauer, brauner
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