Der Falke des Nordens
wahr?”
“Hallo, Rogers. Ja, wie immer im August in New York”, entgegnete sie lächelnd.
Auch der Liftboy sprach über das Wetter, während sie in den zwölften Stock hinauffuhren. Sie fühlte sich verpflichtet, höflich Konversation zu machen, obwohl es ihr lästig war.
Endlich in ihrem Apartment angelangt, seufzte sie erschöpft, streifte die hochhackigen Schuhe ab und legte im Vorübergehen die Handtasche auf den Tisch im Foyer. Seit ihrer Rückkehr aus Casablanca vor drei Monaten war ihr weder nach Lachen noch nach oberflächlichem Geplauder zumute.
Sie war inzwischen zur Vizepräsidentin von Bennettco ernannt worden, hatte ein eigenes Büro und sogar eine Sekretärin, und ihr Vater zollte ihr, wenn auch widerwillig, Respekt. Was will ich mehr?, überlegte sie, während sie im Schlafzimmer aus der Kleidung schlüpfte.
Dann stellte sie sich in dem blau gekachelten Badezimmer unter die Dusche und ließ das erfrischend kühle Wasser über den Körper rieseln. Sie musste sich beeilen, denn in ungefähr einer halben Stunde würde Sam sie abholen. Er bestand darauf, dass sie ihn zu einer dieser endlos lang dauernden Wohltätigkeitsveranstaltungen begleitete, die im Palast-Hotel stattfand.
Sie kannte dieses üppig und luxuriös ausgestattete Hotel, denn sie war schon oft dort gewesen. Sie erinnerte sich jedoch noch allzu gut an den herrschaftlichen Palast in Jandara, der zwar nicht jene protzige Eleganz aufwies, aber trotzdem bis in den hintersten Winkel eine ganz besondere Atmosphäre ausstrahlte, was dem Hotel gleichen Namens nie gelingen würde.
Sie wünschte, ihr wäre beim Frühstück nicht die Überschrift über der kurzen Notiz aufgefallen. “Der Prinz von Jandara baut seine Macht aus, er wirbt für finanzielle Unterstützung des Bergwerks-Projekts”, hatte es geheißen. Und ohne weitergelesen zu haben, hatte sie die Zeitung beiseite geschoben. Die Erinnerungen waren wieder auf sie eingestürmt und hatten ihr den ganzen Tag verdorben, obwohl sie sich den Grund dafür nicht erklären konnte. Khalil ist mir egal, ich habe ihn nie geliebt. Ich war nur verzweifelt und hatte Angst, deshalb ist das alles geschehen, ging es ihr durch den Kopf. Außerdem war sie von seinem unglaublich guten und männlichen Aussehen stark beeindruckt.
Plötzlich fühlte sie sich zurückversetzt in die Nacht, als Khalil sich über sie beugte und nichts als liebevolles Verlangen in seinem Blick lag. “Joanna”, flüsterte er, “Joanna, mein Liebling …”
Nein, Jandara ist Vergangenheit, vertrieb sie die Gedanken. Dank Sams eisernem Stillschweigen hatte niemand etwas von ihrer Rolle bei den Ereignissen erfahren.
“Ich habe nicht darüber gesprochen”, hatte er erklärt, nachdem sie nach Casablanca zurückgekehrt war. “Auch nicht mit dem Auswärtigen Amt. Ich wollte dein Leben nicht gefährden, denn ich konnte nicht abschätzen, wozu dieser Khalil fähig war. Deshalb habe ich seinen Forderungen auch nicht nachgegeben. Ich befürchtete, er würde dich anschließend umbringen lassen. Das verstehst du doch, nicht wahr?”
“Ja, natürlich”, hatte Joanna ihm versichert. Das hatte sie sich selbst auch schon überlegt. Er hatte Abu eingeschaltet, weil er, Sam, keine andere Möglichkeit sah, Joanna zu befreien. Was Abu anging, nun, Sam war auf ihn hereingefallen und hatte sich von ihm täuschen lassen, wie er widerstrebend zugab.
Das einzige Haar in der Suppe war, dass das geplante Projekt geplatzt war. Khalil hatte darüber keinen Zweifel aufkommen lassen. Innerhalb von zwölf Stunden nach seiner Niederlage war Abu zu lebenslanger Haft verurteilt und Khalil wieder als Herrscher von Jandara eingesetzt worden. Bennettcos Vertrag hatte man umgehend per Boten zurückgeschickt. “Wir werden es selbst durchführen”, besagte die kurze und knappe Mitteilung, die Khalil eigenhändig unterschrieben hatte.
Sam hatte sich schrecklich aufgeregt, Khalil verwünscht und verflucht, sich jedoch bald wieder beruhigt. Er meinte, das Wichtigste sei schließlich, dass seine Jo wieder bei ihm sei.
Joanna trocknete sich ab, nahm ein elegantes blaues Seidenkleid aus dem Schrank, zog sich an und legte Make-up auf. Eigentlich hat mein Vater recht, dachte sie. Die Arbeit bei Bennettco macht mir Spaß, ich habe Erfolg. Was will ich mehr? Und was macht es schon, dass ich nachts aus meinen Träumen aufschrecke und mir Tränen über die Wangen rollen?
Sie schaute auf die Uhr. Es wurde Zeit. Rasch steckte sie Kamm, Taschentuch und Lippenstift
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