Der Falke des Nordens
informierte, dass man ihr keine Lügen mehr auftischen konnte, desto besser für sie.
Plötzlich vernahm sie wieder das Geräusch. Sie setzte sich auf und warf die Haare mit einer Kopfbewegung nach hinten. Vielleicht wollten die Pferde mit dem Wiehern auf eine drohende Gefahr hinweisen?
Kurz entschlossen drückte sie Khalil einen Kuss auf die Stirn, stand auf, suchte ihre Kleidungsstücke zusammen und zog sich rasch an. Vorsichtig schlich sie auf den Ausgang zu, der etwas höher lag als die Höhle selbst. Sie musste unbedingt herausfinden, was los war.
Mit einem Mal presste ihr jemand von hinten brutal die Hand auf den Mund. Joanna rang nach Luft und trat heftig um sich. Doch vergebens, noch mehr Hände griffen nach ihr. Man zog sie nach draußen, wo sie von Abu und seiner Gefolgschaft bereits erwartet wurde. Es war schon hell, die Sonne ging gerade auf.
“Guten Morgen, Miss Bennett.” Joanna beobachtete, wie er sich vom Pferd mühte. Ein unangenehmes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sich ihr näherte. “Ich bin seine Exzellenz Abu AI Zouad. Sie scheinen nicht gerade erfreut zu sein, mich zu sehen.”
Er sprach mit lauter Stimme. Joanna fiel auf, dass niemand mehr der Höhle Beachtung schenkte, seit sie dort aufgetaucht war. Das konnte nur eines bedeuten: Sie wussten nicht, dass auch Khalil hier war! Wenn es ihr jetzt gelang, ihn aufzuwecken, und er hörte, was sich abspielte, hätte er Zeit genug, durch den Notausgang zu entkommen.
Sie biss dem Mann, der ihr den Mund zuhielt, so heftig in die Hand, dass dieser laut fluchte und Joanna schlagen wollte.
“Das lassen Sie besser sein”, warnte sie ihn mit fester Stimme. Ob er nun Englisch verstand oder nicht, jedenfalls hielt er inne und warf Abu einen fragenden Blick zu. Abu forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu entfernen.
“Es freut mich, Miss Bennett, dass Ihr Verstand während der Gefangenschaft nicht gelitten hat.”
Joanna hob mutig das Kinn. “Wie haben Sie mich gefunden?”
“Meine Spione haben mich von Ihrer überstürzten Abreise unterrichtet. Anschließend war es leicht, Ihrer Spur zu folgen – obwohl ich zugeben muss, dass mein Kundschafter rein zufällig auf Ihr Versteck stieß.” Er lächelte schmierig und kam ihr noch näher. “Und jetzt sind Sie meine Gefangene! Und was für eine noch dazu!” Völlig unerwartet fuhr er ihr mit der Hand über den Körper.
Joanna erstarrte. Sie erinnerte sich daran, dass Khalil mit der Antwort gezögert hatte, als sie sich erkundigte, ob Abu sie befreien wolle. “Er benutzt dich nur als Vorwand, um gegen mich vorgehen zu können”, hatte er erwidert.
Natürlich beabsichtigte Abu nicht, sie zu ihrem Vater zurückzubringen! Im Gegenteil, sobald er sich an ihr vergangen hatte, würde er sie umbringen und ihren Tod ohne die geringsten Skrupel Khalil in die Schuhe schieben.
Sie schlug seine Hand weg. “Ich bin nicht Ihre Gefangene!” Der Mann neben Abu brummelte gefährlich vor sich hin und griff sogleich nach dem Degen, den er seitlich am Gürtel stecken hatte. “Sie haben offenbar vergessen, wer ich bin”, fuhr sie ihn so scharf und eiskalt an, dass niemand ahnte, wie sehr sie insgeheim vor Angst zitterte.
“Ich habe noch nie etwas vergessen”, entgegnete Abu mürrisch. “Sie sind eine Frau, die von einem Schurken entführt worden ist. Das, was jetzt mit Ihnen geschieht, geht auf sein Konto, nicht auf meins.”
“Selbstverständlich entgeht Ihnen dann die Belohnung, die mein Vater ausgesetzt hat – oder sind Sie so reich, dass Sie für eine Million Dollar keine Verwendung mehr haben?”
“Eine Million Dollar? Ihr Vater hat nicht gesagt …”
Joanna richtete sich kerzengerade auf. “Eine Million, und dazu die Unterschrift unter den Vertrag mit Bennettco. Davon werden Sie jedoch nichts bekommen, wenn ich nicht sicher und heil zurückkehre.”
“Sie sind ja nur eine Frau und können nicht in seinem Namen verhandeln!”
“Aber ich bin seine Tochter.”
“Das sagt überhaupt nichts.”
Joanna lächelte angespannt. “Vielleicht täuschen Sie sich!” Sie nahm allen Mut zusammen und schaute Abu herausfordernd an. “Wollen Sie wirklich das Risiko eingehen?”
Sie konnte förmlich beobachten, wie es hinter der hässlichen Stirn zu arbeiten begann. Joannas größte Sorge galt jedoch Khalil. Hatte er den Lärm gehört und sich in Sicherheit gebracht?
Sie brauchte nicht lange auf die Antwort zu warten, denn plötzlich hörte sie einen markerschütternden Aufschrei,
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