Der Falke des Pharao
Amulett hätte also nicht in dem Trockenzelt aufgefunden werden dürfen. Wenn Ihr lediglich meine Aufmerksamkeit erregen wolltet, dann kann ich Euch versichern, das habt Ihr, und Ihr werdet dafür büßen.«
»Nein!« Raneb flatterte um Meren herum, um ihm ins Gesicht zu blicken, doch dieser wandte sich ab. »Nein Herr, vergebt mir. Ich war noch nie in einen Mordfall verwickelt, deshalb habe ich meine Sinne nicht beieinander. Vielleicht hat einer von uns das Amulett versehentlich im Trockenzelt liegengelassen. Nicht jeder ist so sorgsam wie ich, aber dieses Sakrileg hat mich so aus der Fassung gebracht. Vielleicht ist das der Grund, warum ich so lang dafür gebraucht habe, um mich an die Salbe zu erinnern.«
Meren beugte sich über den Priester und sagte scharf: »Salbe? Bei dem Parfüm auf Hormins Rock handelte es sich um eine Salbe? Heraus mit der Sprache.«
»Ich bin ein alter Mann, Herr, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, warum ich den Duft dieser Salbe nicht direkt erkannte. Es gibt so viele Salben, billige und teure. Doch diese, diese ist wirklich selten.«
Meren blickte in Ranebs leuchtende Augen. »Selten oder nicht, jeder benutzt Salben.«
»Nicht diese, Herr. Das ist keine gewöhnliche Salbe für Bauern. Qeres ist eine Salbe, die aus süßen Harzen und Myrrhe nach einem Rezept hergestellt wird, daß früher, zur Zeit der Errichtung der Pyramiden, nur den Salbenherstellern des Pharao bekannt war. Das Rezept wurde seit Hunderten von Jahren an die Nachkommen weitergegeben. Sein Wert machte die Salbe nur für Prinzen und die Großen des Landes, wie Ihr es seid, erschwinglich.«
»Verflucht«, sagte Meren. »Davon fand ich nichts in Hormins Schatzkästchen. Und doch ist er damit in Berührung gekommen, und zwar zwischen dem Zeitpunkt, da er mit der Konkubine schlief und dem Augenblick, da er starb.«
»Ja, Herr, aber Qeres ist zu wertvoll für jemanden wie Hormin. Man findet sie nur im Palast des Pharao oder im Haus eines Prinzen oder im Tempel eines Gottes. Ich habe Qeres schon seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. In meiner Jugend war diese Salbe selten, denn das Rezept war lange zuvor verloren gegangen und die Vorräte dieser Salbe schwanden dahin. Selbst die Reichsten des Landes werden nicht mehr mit einem Vorrat daran begraben, denn selbst wir im Tempel des Anubis besitzen nichts mehr davon.«
Meren nickte abwesend. Er ging zu seinem Stuhl zurück, dankte dem Priester und verfiel in Schweigen. Mit zahlreichen Verbeugungen verließ Raneb den Raum.
Eine seltene Salbe, ein Herzamulett, ein Schreiber, der wohlhabender war als er hätte sein sollen. War Hormin ein Dieb gewesen? Hatte er Bestechungsgelder angenommen und dafür die Steuerberichte gefälscht?
Er würde Abu beauftragen, Nachforschungen anzustellen. Aber die Salbe – diese Untersuchung würde er selbst in die Hand nehmen. Wenn er mehr über kosmetische Salben und Düfte wissen wollte, konnte er nichts Besseres tun, als die Weisheit der königlichen Parfümhersteller in Anspruch zu nehmen, die in den königlichen Werkstätten in der Nähe des Palastes arbeiteten. Die Fahrt zum Tempel des Anubis und seine übrigen Pläne mußte er aufschieben.
Der Tempel des Anubis. Was für ein bizarrer Ort, wenn man ihn in der Dunkelheit sah. Sogar bei Tag wagten sich nur wenige freiwillig in den Tempel des Anubis. Er war voller toter Seelen, die auf die Wiederherstellung ihres Körpers warteten. Er stank nach Verwesung. Die Lebenden verließen den Tempel des Anubis bei Nacht. Deshalb mußte Hormin einen außerordentlich wichtigen Grund gehabt haben, dorthin zu gehen, einen lebensbedrohlichen Grund oder einen, der ihm eine Belohnung versprach, für die er seine Furcht in Kauf nahm.
Jedenfalls war Hormin in solcher Eile dorthingegangen, daß er sich nicht die Mühe gemacht hatte, einen Rock zu wechseln, der durch eine seltene Salbe befleckt war. Die Salbe, sie war ein Zeichen, ein geheimnisvolles Zeichen, genau wie das Herzamulett und das breite Halsband. Wie bei den Verbindungen zwischen Hormin und seiner Familie und der Menschen, die ihn sonst noch umgaben, so mußten die Zeichen auch hier gedeutet werden. Doch diese Zeichen schienen ebenso schwer entzifferbar zu sein wie die keilförmigen Scherben, die die Babylonier zur Niederschrift von Nachrichten benutzten.
Die Salbe. Er würde die Erlaubnis des Königs benötigen, um die königlichen Werkstätten zu betreten und den königlichen Parfümhersteller zu befragen. Er ging in sein
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