Der Falke von Aryn
Raum ihr am Anfang auch erschienen war, jetzt schien er sie erdrücken zu wollen.
»Wir brauchen nicht so förmlich zueinander zu sein, Lorentha«, meinte der Graf nun mit einem Lächeln, das ihr sogar echt erschien. Er wies auf ein silbernes Tablett, auf dem sich Gebäck befand. »Wollt Ihr vielleicht etwas Gebäck und Tee? Ich darf Euch doch Lorentha nennen? Schließlich kannte ich Euch schon als Kind.«
»Wenn es Euch beliebt«, antwortete sie. Es war deutlich zu erkennen, dass er sich um sie bemühte, etwas, das ihr selten genug widerfuhr, nur dass, ihrer Erfahrung nach, jemand nur dann freundlich zu ihr war, wenn er etwas wollte.
»Ihr seid so direkt wie Eure Mutter«, sagte er jetzt, während sein Lächeln ein wenig dünner wurde. »Also gut. Ich weiß, warum ihr nach Aryn gekommen seid.«
Was auch nicht schwer zu erraten war. Er schien auf ihre Antwort zu warten, doch sie sah ihn nur gleichgültig an.
Er seufzte. »Gut, wenn Ihr es deutlich haben wollt: Ich weiß, dass Ihr hergekommen seid, um den Mord an Eurer Mutter aufzudecken.« Sein Blick fiel nun auf die goldene Marke mit dem Löwenkopf daran, die sie auf ihrer linken Schulter trug. »Eure Zeit bei der Garda hat Euch in dieser Beziehung viel gelehrt, ich hörte so einiges von Euren Erfolgen.«
Was erwartete er von ihr zu hören? Wollte er, dass sie ihm von diesen Erfolgen, so sie denn welche waren, erzählte? Sollte sie ihn in dem Glauben lassen, dass es Rache war, die sie hierhergetrieben hatte? Oder sollte sie ihm erzählen, dass es in ihr eine Verzweiflung, eine Wunde in ihrem Herzen gab, dass es ihr nur um Antworten ging, nur um das Warum? Dass sie verstehen wollte, wer und was sie war? Götter, warum zitierte er sie mitten in der Nacht herbei, nur um dann alte Wunden aufzureißen?
Also sah sie ihn nur an, mit diesem kalten Blick, der ihr bislang am besten geholfen hatte, und der mühsam erlernten Geduld und dem Wissen, dass die, die etwas sagen wollten, es auch sagen würden. Das galt wohl ebenfalls für ihn.
»Lorentha«, meinte er, nachdem ihm das Schweigen zu lange geraten war. Er beugte sich etwas vor, um sie eindringlich anzusehen. »Ihr scheint da etwas misszuverstehen. Ihr seid hier unter Freunden. Ich selbst habe mich die ganzen Jahre darum bemüht, den Mord an Eurer Mutter aufzuklären, doch es ist mir nicht gelungen. Zwar fehlt mir die Erfahrung in solchen Dingen, die Ihr ja nun besitzt, aber ich werde Euch nach Kräften unterstützen. Ich will Euch auch nicht davon abhalten, und wäre dies alles, hätte ich Euch morgen oder übermorgen meine Aufwartung gemacht und gefragt, wie ich Euch helfen kann. Doch es hat sich etwas ergeben, das, wie ich fürchte, Eure Pläne zunichte macht.«
»Und was?«, fragte sie abweisend. Was dachte er denn, was ihre Pläne wären?
»Was wisst Ihr noch über die Stadt Aryn, Kaiser Pladis und Prinzessin Armeth von Manvare?«
»Nicht viel mehr, als alle wissen«, gab sie ungehalten zurück, während sie sich fragte, was das alles sollte. »Er kam als junger Prinz hierher, wurde am hiesigen Königshof vorgestellt, verliebte sich in Prinzessin Armeth, sie heirateten, und sie brachte die Stadt als Mitgift in die Ehe mit. Sie schenkte ihm einen Erben, doch Kind und Mutter starben im Kindbett, und es gab Gerüchte, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen wäre. Dies führte zu einem Aufstand der manvarischen Adeligen in der Stadt, der jedoch blutig von kaiserlichen Marinesoldaten niedergeschlagen wurde. Seitdem halten wir die Stadt … und Manvare das Umland. Das ist jetzt knapp zweihundert Jahre her.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich mich kaum noch an die Stadt erinnere und mich die Geschichte wenig interessiert. Können wir die Geschichtslektion für den Moment vergessen und zum Punkt kommen?«
»Nur Geduld«, bat er sie, obwohl er wissen musste, dass Geduld nicht ihre Stärke war. »Die Geschichtslektion ist der Punkt. Denn genau darum geht es. Ihr habt recht, die Prinzessin brachte Aryn als Mitgift in die Ehe mit, doch sie erhielt ein Brautgeschenk von dem Prinzen, das ebenfalls von unschätzbarem Wert war, vor allem für die Manvaren: den Falken von Aryn. Eine lebensgroße, reich verzierte Statue eines Falken, der Göttin Isaeth geweiht. Der Falke spielt eine besondere Rolle hier in Aryn. Denn es gibt eine Legende …« Mergton atmete tief durch. »Die Stadt hatte ihren Anfang als Tempeldorf, bis heute ist der Tempel von Isaeth ein
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