Der Fall Carnac
rauchverschmutzter Luft kümmerliches Gemüse und ein paar traurige Blumen wuchsen. Es war eine Vorstadt von Versailles, nicht weit von der Autostraße nach Westen. Bescheidene Einfamilienhäuser säumten die Straße, deren Fahrbahn noch nicht einmal befestigt war.
Dabei dachte sie an die schönen Bäume der Überholwerft, ein wahrer Park, von dem man herrliche Ausblicke auf das Meer hatte. Der Seewind, der mit mächtigem Atem blies, hatte die Zypressen alle nach der gleichen Richtung gebeugt, so daß die Westallee dem Wind einen struppigen Rücken von kahlen Zweigen zukehrte.
In den Sturmnächten prasselte der Sand der nahen Dünen an die Fensterläden, und der Wind heulte durch die Bodenräume des riesigen Gebäudes, dessen kräftige Balken an einen Schiffsrumpf erinnerten.
Arme Überholwerft! Als Mama noch ein kleines Mädchen war, verbrachte sie ihre Ferien immer in der Überholwerft, deren richtiger Name »Kananaouen« lautete...
Loute hatte das alte Haus »Die Überholwerft« getauft, weil schon damals dauernd Reparaturen nötig waren — wie bei einem Schiff, das allzu häufig ins Trockendock der Überholwerft mußte.
Loute war weder die Schwester noch die Kusine von Mama. Sie war mehr: sie war ihre Freundin. Die Beziehungen zwischen den beiden Familien — den Parisern und den Bretonen — reichten schon mehrere Generationen zurück, aber niemand wußte noch zu sagen, ob ursprünglich die Pariser nach Carnac gekommen oder die Bretonen nach Paris ausgewandert waren. Doch alle betrachteten die Überholwerft als das alte Familienhaus. Für Loute war es das auch wirklich: Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich mit ihren beiden Kindern Anne und Ludwig dorthin zurückgezogen.
»Eins ist klar«, sagte Herr Belfond plötzlich, »wir können Loute nicht im Stich lassen.«
Er stand aus seinem Sessel auf, trat ans Fenster und trommelte mechanisch gegen die Fensterscheibe. »Schließlich ist ein Aufenthalt in der Überholwerft für uns alle erholsamer als eine lange Reise nach Spanien.« Er wandte sich zurück und sah seine Frau an.
»Meinst du nicht auch? Ich könnte in den Ferien angeln, das würde mir Spaß machen... Oder legst du großen Wert auf Spanien? Warum lachst du? Was habe ich gesagt?«
»Und Espinola, Jakob?«
»Ach, Espinola kann ruhig noch warten. Er wartet nun schon drei Jahrhunderte!«
»Aber das Buch ist fast fertig! Du wolltest doch in Spanien nur noch die letzten Einzelheiten nachtragen.«
»Nun ja, weißt du, schließlich hat es kein Mensch eilig zu erfahren, ob Fernando Espinola tatsächlich der ist, für den ich ihn halte, oder ein anderer des gleichen Namens.«
Mit Espinola war es nämlich so: Herr Belfond benutzte seit mehreren Jahren seine Mußestunden dazu, eine Geschichte seiner Vaterstadt Le Cateau-en-Goëlle zu schreiben. Während der Besetzung der Niederlande durch die Spanier hatte Le Cateau einen gewissen Espinola als Gouverneur gehabt, der entscheidende Maßnahmen zum Besten der Stadt ergriffen hatte. Über diesen Espinola hatte Herr Belfond jedoch weder in Frankreich noch in Belgien irgendwelche Angaben finden können.
Dagegen hatte der Direktor der Archive in Madrid, an den er sich gewandt hatte, angeboten, ihm gewisse noch nicht ausgewertete Akten zugänglich zu machen, die sich auf einen Espinola, Gouverneur in Flandern, bezogen. Welch unverhoffter Fund für einen Forscher!
Alsbald wurde daher beschlossen, nach Madrid zu fahren, und die Kinder waren diesem Espinola dankbar, daß er ihnen die Gelegenheit zu einer schönen Reise verschaffte.
Und nun stellte Loutes Brief das alles in Frage.
»Du wirst verstehen«, begann Herr Belfond von neuem, »wenn ich zwischen Loute und Espinola zu wählen habe... Espinola kann bis zum nächsten Jahr warten. Loute ist ein famoses, mutiges Mädchen, dem wir helfen müssen. Wir werden ihre Einladung also annehmen.«
»Ja, aber du...«
»Glaub nur nicht, daß ich ein Opfer bringe! Die Ferien in der Überholwerft werden herrlich, du wirst sehen.« Mama drängte zunächst nicht weiter.
»Ich freue mich natürlich, das weißt du, Jakob. Ich freue mich für Loute. Aber die Kinder werden schrecklich enttäuscht sein.«
Beim Abendessen wurde die Entscheidung verkündet. Die Zwillinge erhoben zwar noch Widerspruch; doch da sie sich gerade vor dem Abendessen bei ihrer Automobilsternfahrt heftig gezankt hatten, war die Frage des Ferienaufenthalts auf den zweiten Platz gerückt. Line war unentschlossen und wußte selber nicht recht,
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