Der Fall Carnac
gibt ein Gespenst in der Überholwerft. Ludwig hat es gesehen! Anne hat es gehört. Türen fallen zu. Lichter leuchten auf und verlöschen. »Das wird irgend so ein Witzbold sein, der sich einen Spaß daraus macht, andern Leuten Angst einzujagen«, sagte Peter. »Den werden wir fangen und mit Stricken umwickeln wie einen Rollbraten!«
Als Line die Seite umblätterte, fiel ein kleiner Zettel zu Boden. Peter hob ihn auf und entzifferte ihn mühsam. Es ist kein Gespenst, es ist ein Einbrecher. Schweigt darüber! Ganz geheim! Ludwig.
Die in aller Eile hingekritzelten Worte waren auf dem winzigen Streifen Papier, der von einer Schokoladenhülle stammte, kaum zu lesen.
»Was soll das heißen?« flüsterte Line. Peter hatte den Zettel seiner Schwester gereicht.
»Das ist doch klar! Wir reden noch darüber. Still jetzt!«
»Was ist es denn?« fragte Genoveva.
»Nichts, ein Witz von Ludwig.« Damit schob Peter den Zettel in die Hosentasche.
Es folgten ein paar Tage mit fieberhaften Vorbereitungen und immer wieder eingeschärften Verhaltensvorschriften.
Dann wurden die Fahrkarten gekauft.
Jeder packte seinen Koffer selbst, fertigte eine Liste seiner Sachen an, versprach hoch und heilig, nichts davon zu verlieren, sich vor jeder Mahlzeit die Hände zu waschen, die Zähne zu putzen und ausschließlich in der Kaninchenbucht zu baden, die keine Gefahren bot.
»Das schwöre ich euch!« sagte Peter. »Wir gehen niemals woandershin. Ihr könnt ganz unbesorgt sein. Und noch etwas anderes: Wenn wir uns wiedersehen, haben Gerhard und Genoveva schwimmen gelernt. Das verspreche ich euch.«
»Ich kann’s doch schon!« rief Gerhard.
»Ach, du bleibst mit einem Fuß immer auf dem Grund! Man sieht doch, wie der Sand aufgewirbelt wird«, widersprach Genoveva. »Aber ich kann toten Mann!«
»Ja, in drei Zentimeter Wasser!«
Line warf ihnen einen strengen Blick zu. Sie wollten sich doch nicht etwa streiten!
»Und jetzt geht ins Bett! Euer Zug fährt um neun. Ihr müßt also früh aufstehen.«
Das war ein Gewühl auf dem Bahnhof! Ein Dutzend Ferienkolonien reisten zur bretonischen Küste. Koffer in allen Farben, Wimpel, die im Winde flatterten, eifrig beschäftigte Gruppenführer, die die Namen aufriefen, Lieder, Lachen, strahlende Freude, die aus tausend Gesichtern leuchtete.
Von der allgemeinen Fröhlichkeit angesteckt, sangen die Geschwister ebenfalls, als sie sich einen Weg durch die Menge bahnten.
Sie fanden ihren Wagen und ihr Abteil. Vier Reisende hatten sich schon darin eingerichtet, doch die reservierten Plätze waren tatsächlich frei: 43, 44, 45, 46.
Der Zug hallte von einem Ende zum andern von Liedern wider. Papa und Mama, von der Flut der Reisenden hin und her gestoßen, hatten sich an den Rand des Bahnsteiges zurückgezogen.
Hin und wieder rief Papa oder Mama ihnen noch einen guten Rat zu, den die Kinder jedoch nicht verstehen konnten.
Aufs Geratewohl antworteten sie deshalb:
»Ja, ja!«
Die mächtige Stimme des Lautsprechers erklang: »In den D-Zug nach Le Mans, Angers, Nantes, Redon, Vannes, Auray, Lorient, Rosporden, Quimper... bitte einsteigen und die Türen schließen! Vorsicht bei der Abfahrt des Zuges.«
Man spürte das Anfahren gar nicht. Papa und Mama hoben die Arme. Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen! Gerhard und Genoveva brachen in Tränen aus.
Drittes Kapitel
>Das ist ja eine schöne Bescherung!< dachte Peter und warf einen wütenden Blick auf die tränenüberströmten Gesichter der jüngeren Geschwister. >Soll ich ihnen den Schädel einschlagen oder was?<
Aber so einfach war es nicht, jemandem »den Schädel einzuschlagen«, deshalb begnügte er sich damit, sie anzufunkeln und fürchterlich die Augen zu rollen.
Line bemühte sich um die Zwillinge, so gut sie konnte.
»Da, der Eiffelturm!« rief sie plötzlich.
Der Eiffelturm erhob sich zur Rechten über einem ungeheuren Meer von roten und blauen Dächern.
Einige Minuten später war es das Schloß von Versailles, das Line anstaunte. 1
Und schließlich kam der Kellner des Speisewagens und schwenkte seine Glocke.
»Belegte Brote! Limonade!«
»Ich habe Hunger!« rief Gerhard. »Einen Hunger habe ich!«
»Und ich Durst!« setzte Genoveva hinzu.
»Geben Sie mir eine Apfelsine!« bat Line.
Sie nahm Geld aus ihrer eigenen Tasche und bezahlte. Peter, der die gemeinsame Kasse verwaltete, schloß daraus, daß seine Schwester ihre Sparbüchse geplündert haben mußte.
Trotzdem hielt er es für recht und billig, ihr das Geld, das sie
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