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Der Fall Carnac

Der Fall Carnac

Titel: Der Fall Carnac Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel-Aimé Baudouy
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was sie lieber wollte. Gewiß, die Reise nach Spanien wäre sehr schön gewesen, aber sie spürte, daß Mama Loute auf keinen Fall im Stich lassen mochte. Und Papa — natürlich... Für Loute auf ein Vergnügen zu verzichten war eine Freude, und außerdem hatte Line das Gefühl, ein Opfer zu bringen, das sie in ihren eigenen Augen wachsen ließ. Sie war schon fast über sich selber gerührt, als sie spürte, daß Peter sie kritisch musterte, und sogleich gab sie sich Mühe, wieder natürlich zu sein.
    Peter dagegen machte das alles nichts aus.
    Er hatte sofort begriffen, daß seine Eltern entschlossen waren, auf die Reise nach Spanien zu verzichten, um Loutes Hilferuf nachzukommen. Was hätte es dann für einen Sinn gehabt, sich müßigen Klagen hinzugeben? Er hatte die feste Absicht, das Beste aus den Ferien in der Überholwerft herauszuholen.
     

Zweites Kapitel
     
    Line öffnete die Augen, und für Sekunden wähnte sie sich in einer Grotte von Perlmutt. Dann nahmen die Dinge Gestalt an, und sie erkannte die Wände ihres Zimmers, ihre schmale Couch und das kleine Bett, in dem Genoveva schlief.
    Die Nacht war klar und sehr mild. Das Mondlicht ergoß sich durch das weit geöffnete Fenster. Kein Windhauch. Kein Laut im Haus, weder auf der Straße noch im Viertel, weder in der Stadt noch auf der Welt. Und plötzlich sah Line die Straßen Spaniens, weiße Straßen, auf denen der Wind den Staub aufwirbelte und über Pinien und Eukalyptusbäume trieb...
    Ach nein! Sie würde ja nicht über die Straßen von Spanien fahren, nicht den kleinen Eseln begegnen, die mit Bergen von Tomaten und Wassermelonen beladen waren.
    Line sah die Überholwerft vor sich, die mächtige graue Fassade in Mondlicht getaucht, das blaue Schieferdach, das so undicht war, daß man an Regentagen mit Eimern, Becken, Tonschalen, Töpfen und sogar den Kupferkesseln, die an den getäfelten Wänden des Eßzimmers hingen, auf den Speicher rennen mußte.
    Dann ging es im Wettlauf die Treppe hinauf, angetrieben von Loute, die verzweifelt war und wenigstens die Fußböden und Decken der Zimmer retten wollte. Bei dem strömenden Regen, der draußen niederging, machten all diese Behälter, von denen jeder auf seine Weise sang, eine so hübsche Musik, daß die Retter stehenblieben und ihr atemlos und hingerissen lauschten.
    Selbst Loute vergaß dann das drohende Unheil und rief: »Mein Gott, ist das schön!« Und dann mußten alle laut lachen.
    Plötzlich sprang Line aus dem Bett, zog den Morgenrock an, schlüpfte in die Pantoffeln und tat ein paar Tanzschritte. Allé Müdigkeit war jäh verflogen.
    Line hatte den Eindruck, daß sich die Gedanken in ihrem Kopf überstürzten. Ihr war eine Idee gekommen. Sie öffnete die Verbindungstür und trat ins Schlafzimmer der Jungen.
    Peter schlief zu einer Kugel zusammengerollt und unter der Decke verkrochen wie eine Schnecke in ihrem Haus.
    Sie setzte sich auf den Bettrand und rüttelte ihren Bruder an der Schulter.
    Der drehte sich um, fuhr jäh hoch und sah verstört um sich.

    »Pst!« machte Line. »Ich habe eine Idee.«
    Peter stieß einen tiefen Seufzer aus, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und gähnte herzhaft.
    »Hörst du nicht? Ich habe eine Idee.«
    »Dann schieß los!« sagte Peter nüchtern.
    »Wir könnten doch allein in die Überholwerft fahren...«
    »Allein?«
    »Ja. Du, ich und die Kleinen. Dann könnten Papa und Mama nach Madrid fahren. Papa sucht in den Archiven nach seinem Espinola. Und wir wären bei Anne und Ludwig. Damit wäre alles in bester Ordnung. Ich koche, und du beaufsichtigst das Haus. Anne kann mir im Haushalt helfen, und Ludwig wird dein Adjutant. Was hältst du davon?«
    »Prima!« sagte Peter. »Ludwig könnte sich um die Kleinen kümmern, und ich würde die Überholwerft bewachen. Dazu nehme ich das Gewehr, das im Salon über dem Kamin hängt.«
    »Meinetwegen«, erwiderte Line.
    »Schade, daß es keinen Hund dort gibt! Sonst könnte ich auf die Jagd gehen, und wir hätten Wild zu essen.«
    »Vielleicht könntest du in den Wäldern Kaninchen schießen. Die gibt es zu Hunderten.«
    »Sogar Fasanen! Weißt du, wie die zubereitet werden?«
    »So ähnlich wie ein Huhn. An dem großen Bratspieß, weißt du, an dem, der wie ein Wecker klingelt, wenn der Braten gar ist!«
    »Gemacht!« sagte Peter.
    Je länger er über Lines Idee nachdachte, desto besser fand er sie.
    Allein in der Überholwerft zu leben, das änderte alles! Schließlich würde er der älteste Junge dort sein, der

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