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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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dem hellen Tisch, vierzehn blaugraue Aktendeckel, ordentlich beschriftet und gestapelt. Eine alte Frau einen Platz weiterkonnte kaum mehr etwas sehen, sie hielt ein Blatt direkt vor ihre Augen und zog es von rechts nach links vorbei, um es zu entziffern. Sie schüttelte immer wieder den Kopf, manchmal seufzte sie.
    Nachdem der höfliche Mann gegangen war, nahm Leinen im Stehen die erste Akte in die Hand. Er zögerte, sie zu öffnen. Vom Fenster aus konnte er die Bushaltestelle sehen. Ein Schüler alberte dort mit seiner Freundin herum, sie lachten, schubsten sich und küssten sich wieder. Endlich zog Leinen sein Jackett aus und hängte es über den Stuhl. Dann setzte er sich und entnahm der Akte einen Stoß vergilbter dünner Papiere.
    Am Abend mietete er ein Zimmer in einer billigen Pension am Bahnhof. Nachts hörte er den endlosen Güterzügen zu, die Ampel vor dem Fenster tauchte das Zimmer abwechselnd in rotes, gelbes und grünes Licht. Er blieb fünf Tage in Ludwigsburg. Jeden Morgen um acht Uhr ging er die kurze Strecke. Er kaufte sich einen Reiseführer und verstand, dass die Geschichte der Stadt die Geschichte der Kriege war. 1812 kam von hier das württembergische Heer für Napoleon, fast sechzehntausend Männer, beinahe alle starben in Russland. Im Ersten Weltkrieg fielen 128 Offiziere und 4160 Mannschaften des »Regiments Alt-Wuerttemberg« – »auf dem Feld der Ehre« stand in Stein geschlagen auf einem Kriegsdenkmal. 1940wurde »Jud Süß« in dieser Stadt gedreht, weil Joseph Süß Oppenheimer hier gewohnt hatte.
    Leinen saß in dem Lesesaal, die Akten auf seinem Platz wurden jeden Tag höher, seine Aufzeichnungen füllten Seite um Seite, Notizblock um Notizblock. Er forderte so viele Kopien an, dass die Mitarbeiter zu stöhnen begannen. Leinen arbeitete immer bis zum Abend, er wollte keine Pausen, seine Augen röteten sich. Anfangs waren ihm die Akten fremd, er verstand kaum, was er las. Aber allmählich veränderte sich alles. In dem großen kahlen Raum begann das Papier zu leben, alles griff nach ihm, und nachts träumte er von den Akten. Als er nach Berlin zurückfuhr, hatte er zwei Kilo abgenommen. Er trug Kartons voller Fotokopien in seine Kanzlei, ging in seine Wohnung, zog die Vorhänge zu und lag das ganze Wochenende im Bett. Am Montag besuchte er Collini in der Untersuchungshaft. Und als Leinen sieben Stunden später das Gefängnis wieder verließ, wusste er, was er tun musste.

13
    Am letzten Tag vor der Fortsetzung des Prozesses feierte Mattinger seinen fünfundsechzigsten Geburtstag. Leinen kam spät, er hatte bis zuletzt in der Kanzlei den nächsten Verhandlungstag vorbereitet. Er musste seinen alten Wagen weit weg parken. Er ging an der langen Schlange teurer Autos vorbei bis zum Tor von Mattingers Grundstück, zeigte einem Sicherheitsmann seine Einladung und betrat den Hof.
    Mattinger hatte über achthundert Gäste eingeladen. Auf dem Rasen vor der Seeseite des Hauses war ein großes Zelt aufgebaut, eine Band spielte Jazz, unzählige Windlichter in farbigen Gläsern standen auf den beiden Terrassen, im Gras und auf dem Bootssteg. Mattinger hatte ein großes Boot gemietet, das ab und zu anlegte, um Gäste über den See zu fahren.
    Leinen erkannte einige Schauspieler, eine Fernsehmoderatorin, Fußballspieler, einen bekannten Friseur und den Vorstandsvorsitzenden einer Bank, der zwei Tage zuvor aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Er nahm sich etwas vom Buffet, er hatte seit zwei Tagen praktisch nichts gegessen. Die Band spielte gut, Leinen hatte eine CD der Sängerin. Eine Zeit lang hörte er zu. Als die Musik eine Pause machte, suchte er Mattinger, fand ihn nicht und ging hinaus auf den Steg. Breite Korbbänke mit weißen Kissen standen dort auf der Anlegeplattform, die Windlichte zeigten schwach die Umrisse. Er war allein. Über dem Wannsee lag Nebel. Es war zu kühl für die Jahreszeit. Ein paar Boote trieben langsam auf dem Wasser. Mattingers Haus am Hang oben war hell erleuchtet, es spiegelte sich im See. Leinen klappte den Kragen des Smokings hoch. Aus der Tasche holte er das silberne Etui seines Vaters und zündete sich eine Zigarette an. Das Wasser schwappte gegen die Holzpfähle.
    »Guten Abend, Herr Leinen. Mattinger sagte, wenn Sie da wären, seien Sie wahrscheinlich hier. Er kennt Sie offenbar schon ganz gut.«
    Leinen drehte im Sitzen den Kopf. Es war Baumann, der Justiziar der Meyer-Werke. Er hatte ein Glas in der Hand und trug ein Frackhemd mit Stehkragen. Sein

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