Der Fall Collini
alte Anwalt saß ruhig auf seinem Platz und stellte einfache Fragen, er wirkte gelassen und verließ sich auf die Bilder in den Köpfen der Zuhörer.
Nach fünf Tagen schien der Rest des Prozesses nur noch Routine zu sein. Die Vorsitzende war weiter freundlich und die Protokollführerin mit dem Pferdeschwanz sah Leinen immer öfter mitleidig an. Das Interesse der Presse erlahmte, jeden Tag kamen weniger Journalisten in den Saal. In den Zeitungen hatte man sich darauf geeinigt, dass Collini wohl einfach nur ein Verrückter sei. Am sechsten Tag wurde eine der beiden Schöffinnen krank, eine schwere Grippe. Die Vorsitzende unterbrach den Prozess für zehn Tage.Leinen war klar, dass er das Verfahren verlor. Er hatte jeden Abend in der Kanzlei gesessen und die Akten durchgeblättert. Zum hundertsten Mal hatte er die Aussagen der Zeugen, den Obduktionsbericht, die Gutachten der Sachverständigen und die Vermerke der Kriminalbeamten gelesen. An den Wänden seines Büro hingen die Tatortfotos, er hatte sie jeden Tag angestarrt und nichts gefunden. Auch an diesem Tag ging es ihm nicht anders. Gegen zehn Uhr knipste er die Schreibtischlampe aus. Er sah zu, wie seine Zigarette im Aschenbecher verglühte, und roch den angesengten Filter. Mattinger hatte gesagt, er solle nachdenken, immer stünden die Antworten in den Akten, man müsse sie nur richtig lesen. »Wie verteidigt man einen Mann, der sich nicht verteidigen will«, dachte Leinen.
Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, seinen Vater zum Geburtstag anzurufen. Er sah auf die Uhr und wählte im Halbdunkel des Zimmers die Nummer. Sein Vater klang wie immer, er sagte, er reinige gerade die Büchsen, den ganzen Tag sei er draußen im Revier gewesen und habe die Futterkrippen aufgeräumt.
Als Leinen auflegte, glaubte er das Waffenöl wieder zu riechen. Er schloss die Augen. Plötzlich sprang er auf, schaltete das Licht ein und hastete zur Wand mit den Tatortfotos. Blatt 26, Bild 52: »Tatwaffe: WaltherP38« hatte ein Polizist unter das Foto geschrieben. Leinen sah sich die Pistole genau an, er nahm vom Schreibtisch ein Vergrößerungsglas. Er kannte die Waffe. Dann wählte er noch einmal die Telefonnummer seines Vaters.
Am nächsten Morgen nahm Leinen den Zug von Berlin nach Ludwigsburg. Er hatte eine Spur, sie war vage und dünn, aber es war eine Spur. Am Bahnhof in Ludwigsburg fragte er einen Taxifahrer nach der Adresse. Der Mann sagte, es sei nicht weit, man könne die Strecke laufen, aber er fahre ihn natürlich auch. In dem Wagen roch es nach Thymian und Patschuli, eine Kette mit Fatimas Auge hing am Rückspiegel. Die lang gestreckten Häuser der alten Garnisonsstadt waren gelb und rosa gestrichen, alles hier sah ordentlich und aufgeräumt aus. Der Fahrer fragte Leinen, woher er komme, und sagte dann, seine Tochter studiere in Berlin. Das sei auch eine tolle Stadt, so wie Ludwigsburg, nur größer. Sie fuhren an Rathaus und Schloss vorbei und hielten vor einem zurückgesetzten Gebäude. Leinen stieg aus und ging über den kleinen Platz. Links lag das Torhaus, ein alter Eingang zur Stadt. Später lebten hier Totengräber, und ein paar Jahre lang war es eine Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder. Das hohe Gebäude, dessen schmale Seite zur Straße wies,wurde früher von den Einheimischen »Blockhaus« genannt. Lange war es ein Gefängnis gewesen, die Mauern standen immer noch. Erst im Jahr 2000 war hier die Behörde eingezogen, zu der Leinen wollte.
Leinen musste seinen Namen ein paarmal in die Gegensprechanlage brüllen, sie hatte einen Wackelkontakt. Ein automatischer Summer öffnete das rostige Tor in der Mauer. Leinen überquerte den Innenhof bis zu einer Eisentür. Sie stand offen. Hier sah es aus, wie es immer in Behörden aussieht: PVC-Boden, Neonleuchten, Raufasertapete, Türklinken aus Aluminium. Vor der Wachtmeisterei am Eingang standen leere Getränkekisten, die Beamten in ihren blauen Uniformen waren freundlich und gelangweilt. Alles war abgenutzt, ein wenig schäbig, aber niemand interessierte sich dafür, niemand würde hier renovieren. Ein höflicher, schlaksiger Mann empfing Leinen, brachte ihn in den Lesesaal im ersten Stock und erklärte die Abläufe. Leinen hatte sich telefonisch angemeldet. Er hatte kaum einen Anhaltspunkt, nur einen Namen und ein Land. Er hatte geglaubt, dass es aussichtslos sei, aber die Mitarbeiter der Bundesbehörde hatten in den anderthalb Millionen Karteikarten gefunden, was er suchte. Die bestellten Unterlagen lagen auf
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