Der Fall Demjanjuk
reagiert auf bizarre Weise. Er weicht nicht zurück, er schaut nicht zu Boden, im Gegenteil, er wendet sich Rosenberg zu, streckt ihm die Hand entgegen, lächelt ihn an und sagt auf Hebräisch: «Shalom». Frieden!
Was immer die Geste bezwecken sollte, es ist eine ungeheuere Provokation. Rosenberg explodiert. Er schlägt Demjanjuks Hand weg und brüllt ihn an: «Du Mörder, Du Mörder, wie kannst Du es wagen, mir die Hand zu reichen?»
Im Saal brechen Tumulte aus. Rosenbergs Frau Adina schreit im Zuschauerraum auf und fällt in Ohnmacht. Nur mit Mühe kann der Vorsitzende die Ordnung wahren. Endlich, als wieder halbwegs Ruhe eingekehrt ist, wendet sich Richter Levin an Rosenberg: «Sie haben den Angeklagten aus der Nähe angesehen. Was sagen Sie?»
Rosenberg erhebt sich und antwortet: «Das ist Iwan! Ich sage das ohne Zögern, ich habe nicht den leisesten Zweifel. Dieser Mann, der in diesem Moment vor mir steht – das ist Iwan aus den Gaskammern von Treblinka. Ich habe seine Augen gesehen. Seine mörderischen Augen.»
Eindeutiger kann eine Zeugenaussage nicht sein. Ein Holocaust-Überlebender hat einen der Mörder, den Grausamsten der Grausamen, wiedererkannt. Vermutlich hatte Demjanjuk nie eine große Chance auf einen Freispruch. Nach Rosenbergs Aussage aber sinkt sie gegen null. Der Prozess scheint entschieden, Demjanjuks Schicksal besiegelt.
Wen Rosenberg wirklich gesehen hat, als er Demjanjuk in die Augen sah, wird sich wohl nie klären lassen. Tatsächlich Iwan den Schrecklichen? Den Mann, der die Gaskammern von Treblinka betrieben hat? Angenommen, es wäre so: Dann hieße das nicht nur, dass Demjanjuk in Jerusalem hartnäckig gelogen hat, wie ihm fast alle Prozessbeobachterunterstellten. Es hieße auch, dass alle Dokumente, die ihn später entlasten sollten, falsch gewesen sein müssen. Und mehr noch und vor allem hieße es, dass alles, was wir heute über Demjanjuks Verstrickung mit Sobibor und Trawniki zu wissen glauben, nur ein furchtbarer Irrtum sein kann, ein tragisches Missverständnis. Es hieße, dass der Prozess in Israel der richtige war – und der in Deutschland der falsche. Kann das sein?
Schlüsselszene des Prozesses: Eliahu Rosenberg identifiziert Demjanjuk als «Iwan den Schrecklichen».
Kann es sein, dass Demjanjuk doch der Schlächter von Treblinka ist und nicht nur ein Wachmann aus Sobibor? Kann das sein? Eliahu Rosenberg hat es beschworen. Pinhas Epstein hat es beschworen. Und mit ihnen die übrigen Holocaust-Überlebenden, die Demjanjuk in Jerusalem wiederzuerkennen glaubten.
Oder haben sich Rosenberg, Epstein und die anderen Holocaust-Überlebenden getäuscht? Und zwar alle? Hat sie ihre Erinnerung nach so vielen Jahren im Stich gelassen? Ist ihnen, was sie für unvergesslich hielten, womöglich doch entglitten, ganz allmählich und, wer weiß: zu ihrem eigenen Entsetzen? Sind sie einer Art kollektiven Autosuggestionerlegen, als sie mit dem vermeintlichen Iwan dem Schrecklichen konfrontiert wurden? Ist es denkbar, dass sie – bewusst oder unbewusst – in diesem Angeklagten endlich den Mann gesehen haben, vielleicht: den Mann sehen wollten, der Verantwortung trägt für die Albträume, die sie ihr Leben lang verfolgt haben?
Der israelische Historiker Tom Segev schrieb im Rückblick: «Häufig kamen mir nachts wieder die grauenhaften Zeugenaussagen in den Sinn, aber sie konnten trotz aller Eindringlichkeit nicht das unangenehme Gefühl verdrängen, das mich während des Prozesses begleitete. Die Aussagen von Überlebenden, die mit Fingern auf Demjanjuk zeigten, warfen die Frage auf, ob man einen Menschen nach so vielen Jahren wiedererkennen könne, zumal der Betreffende in den zehn Jahren vor dem Jerusalemer Prozess immer wieder in den Medien erwähnt und auch im Fernsehen gezeigt worden war. Die polizeilichen Gegenüberstellungen, die mit den Angeklagten durchgeführt wurden, waren in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft. Unter anderem erschien fraglich, ob man den Zeugen glauben durfte, dass sie sich vor der Gegenüberstellung nicht abgesprochen hatten. Einige Zeugen waren schon in früheren Mordprozessen um das Todeslager Treblinka aufgetreten.
Ihre Aussagen veranschaulichten auch die große Not jener Shoah-Überlebenden, die durchgekommen waren, weil sie als sogenannte ‹Arbeitsjuden› Zwangsarbeit verrichtet hatten, die mit der Vernichtung zusammenhing, etwa indem sie Toten die Goldzähne herausrissen und Leichen verbrannten. In Israel hatten sie ständig mit dieser Wahrheit
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