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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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Sobibor gewesen sei. Das wichtigste Beweisstück der Anklage, der Dienstausweis, sei eine Fälschung des KGB, und auch die Aussage des Zeugen Daniltschenko, zustande gekommen in einem rechtsstaatlich zweifelhaften Verfahren, tauge nicht als Beweis.
    Drittens sei Demjanjuk, einem «fiktiven Demjanjuk in Sobibor», wie Busch sagt, kein individueller Schuldvorwurf zu machen. Das Gericht müsse «positiv nachweisen», dass Demjanjuk an jedem der Tage, an denen die Transporte aus den Niederlanden, derentwegen er angeklagt wurde, in Sobibor angekommen seien, an der Rampe oder im sogenannten Schlauch Spalier gestanden habe. Und das Gericht müsse nachweisen, dass Demjanjuk in dem «Bewusstsein gehandelt habe, dass die Menschen im Schlauch ins Gas geschickt wurden». Eine«bloße Zugehörigkeit zum Lagerpersonal reicht nicht aus für eine Zurechnung von Mordtaten», erklärt Busch. Die Anklage versuche, die Beweislast umzukehren. Ein «konkreter, verifizierbarer Tatbeitrag» aber lasse «sich nicht mit dem Dienstausweis oder einer Transferliste oder der Aussage des Zeugen Daniltschenko nachweisen».
    Zudem hätten die KZ-Wachmänner, viertens, unter «absolutem Befehlsnotstand» gestanden. Sie hätten, so Busch, bei Befehlsverweigerung ihren eigenen Tod oder den von Angehörigen riskiert. «Nazi-Deutschland war ein Terrorstaat, der mit Terror und Gewalt jede Gesellschaftsschicht durchseuchte bis hin zu jedem Einzelnen, der unter seiner Befehlsgewalt stand.» Die kriegsgefangenen Rotarmisten, die von der SS angeworben worden seien, hätten vor der Alternative «Trawniki oder Tod» gestanden. Alle Menschenwürde sei aus ihnen «herausgeprügelt» worden, die «fremdvölkischen» Wachmänner seien zu «Diensthunden der deutschen Massenmörder» abgerichtet worden, zu «ahnungslosen Mitvollstreckern von grauenhaften Taten».
    Und schließlich argumentiert Busch, fünftens, was immer sein Mandant getan habe – er habe seine Strafe längst bekommen. Acht Jahre habe Demjanjuk in Israel in Haft gesessen, fünf davon in einer Todeszelle. Seit 33 Jahren werde gegen ihn ermittelt – «länger als Jesus Christus gelebt hat». Der Gerechtigkeit, sagt Busch, ist Genüge getan. Demjanjuks Schuld, sollte er sich denn schuldig gemacht haben, wäre abgetragen.
    Zum Schluss wendet sich der Verteidiger deshalb mit einem pathetischen Appell an «Deutschland»: «Lassen Sie ab vom Verfolgungsopfer Demjanjuk, lassen Sie John Demjanjuk im Kreise seiner Familie sterben. Sie haben kein Recht, die Schuld für den Holocaust anderswo zu suchen.»
    Busch fordert einen Freispruch, die Freilassung seines Mandanten und eine Haftentschädigung.

Notstand
    Hardy Langer macht eine dramatische Pause. Lang hat der Berliner Anwalt, Vertreter des Nebenklägers Kurt Gutmann, schon gesprochen, ausführlich ist er die Vorwürfe gegen John Demjanjuk durchgegangen, als er ganz am Ende seines Plädoyers noch einmal innehält und sich direkt an den greisen Angeklagten wendet, der stumm auf seiner Krankenliege verharrt, wie alle Tage. Langer spricht ihn unmittelbar an, es ist ein theatralischer Moment, wie es nur wenige gegeben hat in diesem Prozess, ein Auftritt mit Ausrufezeichen:
    «Herr Demjanjuk, sehen Sie allen Nebenklägern in die Augen», ruft Langer.
    «Berichten Sie die Wahrheit über Ihren Werdegang als Wachmann und Ihren Dienst in Sobibor. Sie waren anwesend, als die engsten Angehörigen der Nebenkläger nackt, erniedrigt, beraubt, gestoßen und geprügelt … ihren letzten Gang zu einem qualvollen und sinnlosen Tod antraten … Sie haben die verzweifelten Schreie der Opfer in den Gaskammern ebenso gehört wie die Geräusche des Mordmotors und die Todesschüsse im sogenannten Lazarett. Sie wurden ständig durch den Geruch verbrannten menschlichen Fleisches an die Vielzahl der Opfer erinnert – einen Geruch, von dem Zeugen sagten, dass man ihn ein Leben lang nicht mehr vergessen kann. Bringen Sie die Kraft auf, uns detailliert zu berichten, was Sie erlebt haben, was Sie bewogen hat, auch nach dem Erkennen der Todesmaschinerie weiter dort zu bleibenund dort Dienst zu tun. Das sind Sie den Opfern und den Nebenklägern schuldig.»
    Der Angeklagte zeigt keine Regung. Im Saal A 101 ist es still, flüsternd übersetzt die Dolmetscherin Langers Worte. Und der Anwalt setzt noch einmal nach.
    «Zeigen Sie Ihr eigenes Gewissen. Herr Demjanjuk, nutzen Sie die letzte Chance und brechen Sie Ihr Schweigen!»
    Nach vierzehn Monaten und fast neunzig Verhandlungstagen steht

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