Der Fall der Feste
Auric sah Darachels Stirn sich furchen. „Das könnte tatsächlich so etwas wie ein künstlich geformter Geistkern sein. Dass es so etwas tatsächlich gibt …“
„Du meinst so etwas wie die Valkaersringe? Du hast mir doch erzählt, dass es sich bei ihnen um künstlich geschaffene Geistwesen handelte.“
„Etwas Ähnliches, aber das hier sieht viel simpler aus. Natürlich muss das theoretisch möglich sein. Wenn es den Criyvan-Anaácht möglich war, künstlich geistige Wesen zu schaffen, dann muss es auch möglich sein, etwas viel Einfacheres zu gestalten. Nicht wie ein wirkliches Wesen, sondern nur wie ein Kern aus Geist, der eine bestimmte Aufgabe erfüllt. Aber welche kann das hier wohl sein?“
Auric lenkte seine Aufmerksamkeit stärker auf die unauffällige Sphäre. Es war als würde er dabei Schichten von Nebel durchdringen. Plötzlich wurden für ihn so etwas wie Adern sichtbar, die diesen Geistkern umgaben. Nein, keine Adern, eher so etwas wie Wurzeln. Er blickte noch genauer hin und sah, wie die Adern oder Wurzeln nur die äußersten Fortsätze von etwas waren, das von außen wie durch einen Schleier hindurch nach den geistigen Organen des Silaé griff. Etwas Trübes, Waberndes war hinter den Schleiern, seine Glieder wie durch Häute aus Tinte verbunden, das sich mit seinen Fortsätzen an den Geistkern krallte, ihn damit in seinem Griff hielt, wie mit Tentakeln.
„Das ist es!“, hörte er Darachel rufen. „Das muss es sein, wie sie den Silaé gefangen und versklavt haben. Sie haben ihm einen künstlichen Geistkern angeheftet, durch den ein Großer Geist oder ein anderes starkes Bewusstsein eine Handhabe über ihn erlangen konnte …“
„Vielleicht ein Kyprophraig? Ein Kyprophraig hat die Energien des gefangenen Silaé für die Ausbildung von Magiern benutzt.“
„Vielleicht ein Kyprophraig, vielleicht einer, der sich dabei eines anderen Geistes bediente. Aber dies ist jedenfalls das Werkzeug, mit dem der Silaé versklavt wurde.“
Der Gedanke an den Kyprophraigen, an Unterjochung und Versklavung setzte etwas zwischen ihm und der Geisteslandschaft um ihn herum frei.
Die zentrale Steinplatte barst unter der Wucht eines ungeheuren Schlages. Der Geist des Silaé erwachte und erkannte, dass seine Glieder von Licht verbogen und zersplittert waren. Dass er nicht mehr wusste, wer er war, was er gewesen war. Dass ihm Gewalt angetan worden war. Auric spürte, wie unter der Macht der erneut wieder hervorbrechenden und auf ihn einbrandenden Erinnerungen das Bild um ihn herum zerfaserte, er spürte, wie der eingefrorene Moment, in dem der befreite Silaé ihm das Geschenk gemacht hatte, an Substanz verlor und zusammenbrach.
Wie er vor sich den vertrauten Ausblick durch die hohen Fenster seiner Räume sah. Durch eine seltsam verschobene Doppelperspektive. Der eingefrorene Moment des Geschenks war ihm entglitten, doch die Konklavbindung hielt.
Er schaute zu Darachel hin.
Gefühle der Verwunderung und des Triumphes mischten sich auf seinen Zügen. Ein Erschlaffen ging durch seine Gestalt.
Das seltsame Gefühl der Doppelperspektive verflog. Die Konklavsphäre löste sich auf.
„Wir haben es tatsächlich geschafft“, sagte der Ninra.
„Du hast es geschafft“, entgegnete ihm Auric. „Du hast über lange Zeit eine Konklavsphäre ohne Hilfe eines Patenwesens aufrecht erhalten.“
„Und ich hätte sie noch länger stabil halten können.“
„Ein wirklicher Erfolg.“
Darachels Miene trübte sich. „Aber was das Geschenkt des Silaé betrifft, sind wir so klug, wie zuvor.“
Ja, das stimmte vielleicht. Sie wussten nun schon seit einiger Zeit, dass dieses ominöse Geschenk nicht dazu führte, dass er die Zwischenschichten wahrnehmen konnte. Aber jetzt wusste er zumindest, wie sie aussahen. Innerhalb eines einzigen Moments in der Zeit. Er konnte sie innerhalb dieses Moments aufsuchen und sich ansehen. Sie studieren und sich ein Bild von ihrem Wirken machen.
Er war zwar im Jetzt noch immer blind gegenüber den Bereichen, aus denen heraus die Ninraé ihre magischen Manipulationen vollbringen konnten, aber nun konnte er zumindest versuchen, etwas von ihrer Natur zu verstehen.
Und das war immerhin ein zweiter großer Erfolg für diesen Tag.
Er erwachte aus einem leichten Schlaf und wurde gewahr, dass er geträumt hatte.
Er lag im flachen Grau des Raumes und blickte zur Decke hoch.
Er hatte im Traum die Stimme seiner Mutter gehört. Er hatte wieder auf ihrem Bett in Valgarien, halb in die Ecke
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