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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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und her, sanft wie ein stiller Ozean.
    «Auffi, Trottel! Kumm! Auffi! Auffi, kumm, Trottel! Auffi!»
    Unvermittelt bohrt sich der grausame Schmerz in des Lemming linke Schläfe, sein Gehirn wird von Myriaden rostiger Zahnräder zermahlen, seine Augen zucken blutig heraus aus der Stille der Nacht, zucken dem Wecker entgegen, dem roten Digital: sechs Uhr zweiunddreißig! Lastenaufzug! Sechs Uhr zweiunddreißig! Schlagbohrer! Presslufthämmer! Betonmischmaschinen! Wieder! Schon wieder!
    «Scheiß! Scheiß!», brüllt der Lemming. «Ihr scheißgefickten Drecksbeuteln! Ihr verbrunzten Trottelärsche!»
    Er verstummt, schließt wieder die Augen, spürt tief in seine Brust hinein, wo das Herz rast, schlägt dann die Bettdecke zurück. Seine eigene Stimme hat ihn endgültig wach gemacht.
    Es gibt wenig Schlimmeres. Gleich zu Beginn des Tages brutal beraubt zu werden, und gar dessen beraubt, was dem Lemming das Heiligste ist: süßes, nächtliches Eingesunkensein, bunte, erfrischende Träume, Ruhe, Schlaf. Es ist die achte benachbarte Baustelle in den letzten fünf Jahren: rechte Wohnung, untere Wohnung, Tiefgarage gegenüber, obere Wohnung, neue Leitungen im Treppenhaus, sechsgeschossiger Wohnbau gegenüber, linke Wohnung und jetzt: Dachausbau im rechten Nachbarhaus. Im kommenden Jahr wird das linke Nachbarhaus aufgestockt. Und was kommt dann?
    «Bauwirtschaft, verhurte», murmelt der Lemming, während er sich in der Küche an der Kaffeemaschine zu schaffen macht, «verschissenes Banditenpack … von euch lass ich mir nicht … Okay, okay. Jetzt nur die Ruhe … Denk an etwas Schönes, Lemming … Katharsis, Lemming! Katharsis, verdammt! Geistige Disziplin!» Er konzentriert sich, tritt ans Spülbecken und öffnet den Wasserhahn. Und siehe: Ein Wunder geschieht. Aus der Leitung dringt der süße, kraftvolle Klang von unberührter Natur. Das Gurgeln einer Quelle, das Rauschen eines Baches, das Röhren eines Hirsches in der Brunft. All das strömt dem Lemming in erschütternder Reinheit entgegen, all das, nur kein Wasser.
    Castro schläft noch selig in der Badewanne. Der Lemming schlüpft in seine Kleider und begibt sich ins Kaffeehaus, ungeduscht und unrasiert. Nach zwei großen Braunen und drei Gläsern Wasser fühlt er sich besser. Es ist kurz vor halb acht, Zeit, zur Schule zu gehen.
    Das Schebesta-Gymnasium im neunzehnten Wiener Gemeindebezirk gilt noch immer als eine der Nobelschulen Wiens. Vor einem halben Jahrhundert von ihrem ersten Direktor, dem legendären Hofrat Schebesta, gegründet, wurde sie bis zum Ende der siebziger Jahre von den Söhnen der oberen Zehntausend besucht. Dann verwarf man in den letzten öffentlichen Lehranstalten die Idee der Geschlechtertrennung, und es wurden erstmals auch Mädchen aufgenommen. Inmitten eines großen Parks mit Hecken, Bäumen und ausgedehnten Sportanlagen liegt das flach gestreckte Gebäude, ein Hort humanistischer Bildung, optisch geprägt von der Sachlichkeit nüchterner Nachkriegsarchitektur.
    Sieht gar nicht so übel aus, findet der Lemming. Trotzdem ist ihm mulmig zumute, während er an Fußballplatz und Aschenbahn vorbei auf den Haupteingang zugeht. Mit jedem Schritt werden alte, längst verloren geglaubte Erinnerungen an seine eigene Schulzeit wach, und es sind keine schönen. Die bedrückende Angst vor einer schwierigen Prüfung, die Furcht vor einem missgünstigen Lehrer oder einem verfeindeten Klassenkollegen, die vorab getroffene Wocheneinteilung in schlechte und noch schlechtere Tage, je nach Stundenplan, je nach Vorliebe für die einzelnen Unterrichtsfächer. Dann dieser endlose Eiertanz zwischen schulischem und menschlichem Versagen, dieses stete Bestreben, brav, aber nicht zu brav, mutig, aber nicht zu mutig, fleißig, aber nicht zu fleißig zu sein, um seine Chancen hier wie da zu wahren, um sich mit Lehrern, Eltern und Mitschülern gerade noch zu arrangieren, eine diplomatische Gratwanderung zwischen drei widersprüchlichen Kräften, ohne die eigene Kraft zu verlieren, acht Jahre lang, die Quadratur des Kreises.
    Der Lemming steht vor der Front mit den gläsernen Eingangstüren und versucht, sich nicht wie ein Schüler zu fühlen.
    Du bist ein Mann … Du hast es lange hinter dir …
    Es ist kurz vor acht. Einige Kinder mit schweren Schulranzen hasten im Laufschritt am Lemming vorbei, um noch rechtzeitig vor dem Läuten in ihre Klassen zu kommen. Na klar! Auch diese ewige Angst vor dem Zuspätkommen …
    Der Lemming muss sich zügeln, um nicht selbst

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