Der Fall des Lemming
Trauerminute angeordnet, heute gleich nach der Zehn-Uhr-Pause, in allen Klassen. Kann ich Ihnen sonst etwas? Ein paar Kekse vielleicht?»
«Ich … äh …»
«Wie ich schon gestern gesagt habe, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, Tag und Nacht, wenn Sie wollen, Hauptsache, die Ermittlungen, auch meine Mobilnummer hab ich Ihren Herren Kollegen schon, und die arme Witwe, meiner Seel, habe natürlich ganz offiziell Beileid, als Botschafter der Schule, nicht wahr, auch einen Kranz werden wir, bei der Beerdigung, das versteht sich von selbst und …»
Der Lemming sieht seinem Gegenüber ins Gesicht, genauer gesagt: Er stiert durch dessen Nasenlöcher in unendliche Fernen und nickt. Es hat keinen Sinn, sich zur Aufmerksamkeit zu zwingen. Der Direktor gehört zu einer Sorte Mensch, deren Worte, eben ausgesprochen, auf halbem Weg zum Ohr verdampfen wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte. Jedes Mal wieder ist es ein beklemmendes Erlebnis für den Lemming, solchen Leuten zu begegnen, und er hat bis jetzt kein Mittel gefunden, um damit fertig zu werden. Er sieht sich, eingeschnürt in eine Zwangsjacke und mit Eisenketten gefesselt, von der Decke einer dreifach vergitterten Zelle hängen. Sein Mund ist mit alten Socken geknebelt, die Augen sind dick verbunden, die Ohren verklebt mit dicken Klumpen von Gummiarabikum. Aber er nickt. Er nickt unaufhörlich, als ginge es um seine nackte Existenz. Und ihm gegenüber sitzt … seine Mutter. Sie redet. Und redet. Der Lemming fühlt sich wie ein stillgelegtes Telefon. Verdinglicht, unbeachtet, nicht vorhanden. Die schlimmste Art, jemanden zu ignorieren, ist nicht das Schweigen. Die schlimmste Art ist, mitten durch ihn hindurchzuschwatzen.
«… noch ein Glück, dass der selige Hofrat Schebesta das nicht mehr erleben musste, ein solcher Vorfall, Gewalt und Verbrechen, wo doch gerade wir Lehrer eine ganz besondere Verantwortung …»
Gelobt sei Fräulein Matuschek. Plötzlich steht sie im Türrahmen und durchbohrt den Lemming mit medusenhaften Blicken.
«Herr Direktor, der Herr Ministerialrat bittet um Rückruf.»
Oberstudienrat Promonts Sermon hat ein jähes Ende gefunden. Eilfertig erhebt er sich und meint: «Ja also, Herr … äh, Inspektor, ich hoffe, ich konnt Ihnen ein bisschen weiterhelfen. Und wenn Sie noch Fragen haben, jederzeit, nur keine Scheu, meine Nummer haben Sie ja.»
Bevor er weiß, wie ihm geschieht, findet sich der Lemming auf dem Flur wieder. Legt seinen Kopf in den Nacken und atmet tief durch, so als hätte er eine halbe Stunde lang die Luft angehalten. Aber nach und nach weicht das erste Gefühl großer Erleichterung der Erkenntnis, dass er nichts erfahren hat. Nicht das Geringste. Natürlich: Die dicksten Mauern sind aus Freundlichkeit und Jovialität gebaut. Viel reden und nichts sagen, das ist das Handwerkszeug der Funktionäre und Politiker. Dieser Promont sollte Unterrichtsminister werden …
Der Lemming wendet sich ab und eilt auf die Treppe zu. Weg, denkt er, nur weg von hier, hinaus aus diesem verlogenen Moloch. Aber dann, gerade noch rechtzeitig, gelingt es ihm, sich zu zügeln. Es ist doch so: Wenn er die Schule jetzt verlässt, gibt er die ganze Sache auf. Er hat keine andere Spur, kein anderes Ende eines roten Fadens, dem er folgen könnte. In einem Akt hehrer Selbstüberwindung greift er nach dem Stiegengeländer, hastig wie ein strauchelnder Akrobat nach dem Trapez, und zwingt sich zur Umkehr.
Eine Frau mit kurz geschnittenem Haar und dunkel umrandeten Augen öffnet die Tür des Konferenzzimmers. Mitte fünfzig vielleicht, den zierlichen Körper in weite, fleckige Latzhosen gehüllt, blickt sie den Lemming fragend an. Zeichenlehrerin, konstatiert er erleichtert, und alt genug ist sie auch. Du bist ein Glückspilz, Lemming … Auf einmal ist er froh, sich heute Morgen nicht rasiert zu haben. Das passt, wie er findet, zu ihrer saloppen Erscheinung. Wie von selbst verzieht sich sein Mund zu einem unbeholfenen Lächeln.
Eine Viertelstunde später sitzen sie in einer Kammer im hintersten Teil der Schule, dem so genannten Künstlertrakt, ebenerdig gelegen und, wie es scheint, ein wenig freundlicher als der Rest des Gebäudes. Hier befinden sich die weiträumigen Zeichen- und Musiksäle, Relikte aus einer Zeit, da man den schönen Künsten, den musischen Fächern noch Hochachtung zollte in Österreichs Bildungswesen. Um den Lemming türmen sich Farbtöpfe, Holz- und Metallplatten, Drucksiebe, riesige Rollen mit Packpapier,
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