Der Fall des Lemming
loszulaufen.
Schluss damit! Du bist ein Mann! Ganz bewusst wird er dastehen und warten, bis der Unterricht beginnt. Er ist erwachsen. Niemand wird ihn dafür rügen.
Ein paar Meter neben ihm lehnen drei Halbwüchsige lässig an der Wand und rauchen.
«Und? Weiß man schon, wer’s war?», fragt einer davon. «Aber geh, was wissen die überhaupt, die Kiwara …»
«Prolos. Einzeller.»
«Mistelbacher.»
«Wieso Mistelbacher?»
«Na, weißt eh – die meisten Bullen haben s’ aus dem Weinviertel importiert. Perfektes geistiges Anforderungsprofil, verstehst? Da draußen sind s’ schon seit Generationen deppert g’soffen …»
Die Stimmen der Schüler sind laut, ein wenig lauter, als es nötig wäre. Ihren spöttischen Seitenblicken kann der Lemming entnehmen, dass das Gespräch für seine Ohren bestimmt ist. Plötzlich löst sich einer der Halbwüchsigen aus der Gruppe, schlendert auf ihn zu, betrachtet ihn mit großen, unschuldigen Augen und fragt: «Entschuldigen S’ … kommen Sie zufällig aus Mistelbach?»
Nur ein kurzer Moment der Verblüffung, dann brechen seine Freunde in Gelächter aus.
«Gib’s auf, Hömerl, er kann dich net verstehen!», prustet der eine.
«Versuch’s einmal mit Glasperlen!»
«Oder Feuerwasser!»
Hier also hat Grinzinger unterrichtet.
Mit hochrotem Kopf flüchtet der Lemming ins Gebäudeinnere, gerade als die Schulglocke die erste Stunde einläutet. Der Lehrertrakt befindet sich im ersten Stock, in einem kurzen Korridor zwischen zwei lichtdurchfluteten Fluten. Kollegium – Klopfen und Warten! , steht auf einer der Türen. Direktor – OStR. Promont , ist auf einer anderen zu lesen und darunter: Ein freundlicher Gruß verschönert den Tag! Der Lemming klopft, wartet, drückt dann ein wenig unschlüssig die Klinke hinunter und steckt seinen Kopf durch den Türspalt.
«Ah, einen schönen … guten Morgen …»
«Rein oder raus!»
Die Frau ist hager, weinrot ihr Kostüm mit dem weißen Stehkragen, schmal und ungeschminkt die Lippen. Ohne aufzublicken, sitzt sie über die Tastatur einer Schreibmaschine gebeugt und tippt.
«Ich höre.»
«Verzeihen Sie, Frau Direktor, es ist … ich komme wegen Herrn Doktor Grinzinger. Es gibt da noch einige …» «Sind S’ angemeldet?»
«Nein … nicht direkt …»
«Dann tut’s mir Leid. Wir sind heut sehr beschäftigt. Rufen S’ an und lassen Sie sich einen Termin …»
In diesem Augenblick öffnet sich eine Seitentür, durch die ein stämmiger Mann in Anzug und Krawatte hereinstürmt.
«Fräulein Matuschek, hat sich der Ministerialrat schon gemeldet?»
«Nein, Herr Direktor, aber …»
«Macht nix … Ah, da schau, wir haben Besuch. Wollen Sie zu mir?»
Oberstudienrat Promont tritt mit einem breiten Lächeln auf den Lemming zu und ergreift seine Hand.
«Ja, bitte, wenn’s keine Umstände … Ich komme wegen, Sie wissen schon, wegen des Mordes …»
Ein Engel geht durchs Zimmer. Die klappernde Schreibmaschine ist verstummt. Fräulein Matuschek sieht den Lemming entrüstet an.
«Wie können Sie hier … so ein Wort …»
«Ja, ja, das Unglück, natürlich, selbstverständlich, kommen S’ nur weiter!»
Direktor Promont räuspert sich, packt den Lemming am Arm und schiebt ihn mit sanfter Bestimmtheit in sein Büro.
«So ein Wort …», vernimmt der Lemming noch einmal die Stimme der Sekretärin, bevor die Tür ins Schloss fällt.
«Bitte nehmen S’ doch Platz. Einen Kaffee vielleicht?»
«Gerne – oder nein, nein danke, lieber doch nicht.» Eine Leiche ist genug, denkt der Lemming. Gewiss verfügt die Schule über ein Chemielabor. Er will sich einen grausamen Vergiftungstod ersparen, und das heißt: kein Kaffee von Fräulein Matuschek.
«Ja, also der Kollege Grinzinger … Wir waren alle sehr erschüttert, das können Sie mir glauben, obwohl er ja schon seit über einem Jahr im Ruhestand war. Wohlverdient, muss ich anmerken, wirklich wohlverdient. Ich hab’s ja gestern auch den beiden anderen Herren von der Polizei erzählt, aber wissen Sie, so einen Lehrer findet man selten in der heutigen Zeit. Der Beruf war sein Leben, er war eine Autorität, auch in fachlicher Hinsicht. Immer auf dem letzten Forschungsstand, immer pünktlich, immer redlich, immer korrekt. Ein Vollblutpädagoge, der Doktor Grinzinger. Streng, aber gerecht. Ich hatte leider nicht das Glück, lange mit ihm zusammenzuarbeiten, ich bin ja selbst erst vor drei Jahren an die Anstalt, aber ich habe selbstverständlich eine
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