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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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eines der Regale, fährt mit dem Zeigefinger prüfend die Buchrücken entlang und nimmt einen dünnen Band heraus.
    «Das wird Sie vielleicht interessieren. Ich weiß selbst nicht viel darüber, weil ich erst drei Jahre später von einer anderen Schule hierher gewechselt bin, aber … Schaun Sie sich das an, wie weiland Karl Farkas sagte. Und achten Sie auf die Sieben B, auf das so genannte ‹tragische Unglück›. Von dieser Sorte Unglücksfall soll es noch einen zweiten gegeben haben, in derselben Klasse, nur ein paar Monate später. Wenn Sie wollen, krieg ich das für Sie heraus …»
    Sie verstummt und schüttelt entgeistert den Kopf. «Haberl, Haberl, jetzt wirst noch zum Spitzel auf deine alten Tag … Wie kann ich Sie erreichen? Haben S’ ein Handy?»
    Der Lemming zuckt bedauernd mit den Achseln. «Meiner Seel, Sie sind ja sogar ein original spätmittelalterliches Aktmodell! Na, dann geben S’ mir halt Ihre Nummer von zu Hause – eine Wohnung werden Sie ja haben …»
    Im angrenzenden Zeichensaal werden vereinzelte Stimmen laut, die sich in kürzester Zeit zu einem Konzert aus Geheul und Gejohle verdichten, zu einem abscheulichen, schier unerträglichen Höllenspektakel, dem Substrat allen schulischen Lebens.
    Der Lemming kämpft sich durch die drängenden Schülermassen auf dem Flur und sucht nach dem Ausgang, als unversehens ein bekanntes Gesicht vor ihm auftaucht.
    «Jö, der Mistelbacher!»
    «Arschgesicht», entfährt es dem Lemming, «kleine Kröte.»
    «Ja schau, der kann sogar sprechen!»
    Wie leicht das Denken plötzlich fällt, wenn man im Lot und übermütig ist. Ganz ohne Kraftaufwand, ganz spielerisch perlt es durch die kleinen grauen Zellen des Lemming; er braucht kaum eine Sekunde, um alle Variationen eines Themas abzuwägen, und das Thema heißt: Rache.
    Nachher wird es ihm wieder Leid tun. Er wird sich einmal mehr seiner eigenen Jugend entsinnen und es bereuen, sich gegen einen sechzehn-, vielleicht siebzehnjährigen Knaben gewehrt zu haben, der ja selbst nur um Erleichterung ringt, der zerrissen ist im Spannungsfeld der allmächtigen Trinität, aufgerieben zwischen Lehrern, Eltern und Mitschülern. Und er wird sich fragen, warum sein Geist im Kampf gegen mächtigere Widersacher so schwerfällig ist. Ja richtig, gegen Krotznig zum Beispiel. Er wird sich schämen, und es wird ihm Leid tun, aber nur ein bisschen.
    «Hömerl!», brüllt der Lemming im Brustton höchster Verzweiflung. «Das kannst du mir doch nicht antun! Was soll das heißen, du liebst mich nicht mehr?» Sofort bleiben einzelne Schüler stehen, treten neugierig näher und ziehen die Aufmerksamkeit der anderen auf die skurrile Szene. Bald hat sich ein dichter Kreis gebildet, in dessen Mitte der Lemming dem völlig sprachlosen Hömerl bittere Vorwürfe macht.
    «Ja weißt du denn nicht mehr? Der Vollmond über Mistelbach? Die Rosen? Die süßen Nächte auf dem Bärenfell? Willst du das alles einfach so wegwerfen?»
    Hömerl ringt um Worte. Schnappt nach Luft wie ein verendender Karpfen und bringt letzten Endes nicht mehr hervor als ein abgehacktes: «Sie … Sie … Sie … sind ja völlig …»
    «Ach! Jetzt sind wir auf einmal per Sie! So weit hat’s also kommen müssen! Nein, mein Lieber, das hab ich wirklich nicht nötig!»
    Mit hoch erhobenem Kopf und einer wegwerfenden Geste durchschreitet der Lemming den Ring der staunenden Schüler und stolziert davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Erst als er um die nächste Ecke biegt, brandet hinter ihm Gelächter auf, nur übertönt von vereinzelten gellenden Schreien: «Bärenfell! Der Hömerl! Bärenfell!»
    Das war nicht fair von dir, denkt der Lemming auf dem Weg zur Straßenbahn. Kinder können ziemlich grausam sein … Trotzdem kann er ein zufriedenes Grinsen nicht ganz unterdrücken. Alles in allem ist es doch noch ein durchaus erfolgreicher Schultag geworden.

8
     JAHRESBERICHT 1978
    Schwarz, fett und schmucklos sind die Lettern in silbergrauen Karton geprägt. Wie ein Blinder die Brailleschrift entziffert, so lässt der Lemming seine Fingerspitzen darüber wandern, lehnt sich zurück und schlägt den Buchdeckel auf.
    Ihm bleibt eine knappe Stunde, um in Ruhe zu lesen, was es zu lesen gibt. Die Meißel und Bohrer sind verstummt, es ist kurz nach zwölf, Mittagspause. Sicherlich sitzen die Arbeiter jetzt zwischen Bergen von Schutt und tanken Kraft, führen ihren Bäuchen Bier und Wurstsemmeln zu, um dann, Punkt dreizehn Uhr, mit doppeltem Eifer …

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