Der Fall des Lemming
Unerbittlich frisst der Zeiger die Sekunden, die Minuten.
BUNDESGYMNASIUM XIX – HOFRAT-SCHEBESTA-SCHULE
Gleich auf der dritten Seite prangt das Brustbild des damaligen Direktors, eines gewissen OstR. Freysenbichler. Blass das Foto, farblos der Mann. Darunter die Einleitung, Grußworte des Schulleiters, weitgehend inhaltsleer, eine selbstgerechte Suada, gespickt mit Wendungen wie «moderne Wertegesellschaft» oder «gemeinsam voranschreiten». Der Lemming blättert rasch weiter.
Leise knarrt die Tür des Badezimmers. Mit hochgezogenen Brauen und hängenden Augenlidern torkelt Castro heraus, verliert für einen Moment das Gleichgewicht, fängt sich mit überkreuzten Beinen an der Wand und nimmt den Kampf gegen die Schwerkraft wieder auf. In Schlangenlinien durchquert er den Raum, stolpert bis hin zum Lehnstuhl, in dem der Lemming sitzt. Er hievt seinen Schädel hoch, mit letzter Kraft, wie es scheint, und lässt ihn in den Schoß des Lemming sinken.
«Guter Hund», brummt der und legt seine Hand in den warmen Nacken des Tieres. Zwei gefüllte Kondome hat Castro ihm heute beschert – verborgen in einem einzigen gewaltigen Haufen auf dem Kopfkissen. Morgen früh wird der Lemming den Polster mit Plastikfolie überziehen und hoffen, dass sich Castros Peristaltik nicht davon einschüchtern lässt.
DER ELTERNVEREIN
Ingenieure, Diplomkaufmänner, Doktoren, Direktoren, Kommerzialräte. Kein Wunder, dass der Jahresbericht so aufwendig gestaltet ist. Teures Papier, durchgehender Vierfarbendruck, kaum eine Seite ohne Zeichnung oder Foto. So etwas kostet. Sekretärin, Lehrer, sogar die Schulwarte sind fotografisch verewigt. Und nicht zuletzt die Schüler selbst, jene heranwachsenden Hoffnungsträger des Wiener Bildungsbürgertums, jene Erben und Thronfolger des Döblinger Geldadels. Der Lemming blättert weiter, lässt seinen Blick über einige hundert aknegeplagte Gesichter schweifen, bis er an jene Stelle gelangt, die ihm die Zeichenlehrerin ans Herz gelegt hat.
7B
KLASSENVORSTAND: DR. FRIEDRICH GRINZINGER
So hat er also vor zwanzig Jahren ausgesehen. Die Haare noch dunkel und voll, hinter den Schläfen dezente Siebziger-Jahre-Koteletten, die Haut vergleichsweise straff und von gelblich brauner Tönung wie die eines starken Rauchers. Kein unschöner Mann, findet der Lemming. Und trotzdem ist da etwas, was ihn stört an Grinzingers Physiognomie. Vielleicht sind es die schwarzen, ein wenig zu klein geratenen Augen mit den dichten Brauen, die aussehen, als seien sie aufgemalt, vielleicht das weiche, fast fliehende Kinn, an dem der Blick abgleitet wie an den Möbeln der nichts sagenden Grinzinger-Wohnung. Wahrscheinlich aber ist es der linke, leicht hochgezogene Mundwinkel, der dem Lemming schon vorgestern im Wienerwald aufgefallen ist, weil er dem Antlitz des Lehrers einen unangenehmen, spöttischen Ausdruck verleiht. Castro ist eingeschlafen. Jetzt beginnen seine Lefzen und Ohren zu zucken, seinem Maul entringen sich seltsame Töne, ein kurzes, japsendes Blaffen, ein Knurren, ein Grunzen. Der wuchtige Körper des Hundes gerät in Bewegung, rutscht mitsamt dem Teppich, auf dem er halb sitzt, halb liegt, nach hinten, sein schwerer Kopf gleitet die Beine des Lemming entlang bis zu den Knien, wo er den Halt zu verlieren droht. Rasch beugt sich der Lemming vor, um Castros Schädel abzufangen und sanft auf den Boden zu betten.
Das Verzeichnis der Unterrichtsgegenstände liest sich wie eine lange ad acta gelegte Speisekarte. Kaum zu fassen, dass der Lemming all diese Fächer auch einmal lernen musste. Deutsch, Englisch, Französisch, Latein, Mathematik – die Hauptspeisen. Geographie, Geschichte, Chemie, Physik, Biologie, Psychologie – die Suppen und Zwischengerichte. Religion, Musik und Turnen – die Beilagen und Desserts. Jeden Vormittag fünf bis sechs Portionen, sechs Tage pro Woche, eine Mastkur selbst für die stärksten Mägen und Köpfe. Friedrich Grinzinger ist wohl so eine Art Chefkoch der Sieben B gewesen. Wie man der Liste entnehmen kann, war er nicht nur ihr Klassenvorstand, er hat sie darüber hinaus in Latein und Geschichte unterrichtet. Immerhin macht das im Durchschnitt ein bis zwei Stunden Grinzinger täglich, so rechnet der Lemming nach.
Auf der gegenüberliegenden Seite prangen die Fotos der Schüler, und hier erregen sofort zwei Dinge seine Aufmerksamkeit. Zum einen die außergewöhnlich geringe Schülerzahl. Nicht mehr als dreizehn junge Männer blicken ihm aus dem Buch entgegen, mit teils
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