Der Fall des Lemming
Schebesta-Stützpunkt. Das hätten S’ nicht geglaubt, dass Sie so rasch von mir hören, was?»
«Frau Professor! Welche Ehre!»
«Ich muss es leider kurz machen, also passen S’ gut auf. Das Hefterl haben S’ gelesen?»
«Ja. Schon …»
«Es ist Folgendes: Ich hab vorhin mit einem Kollegen von der christlichen Fraktion geredet, noch älter als ich, das muss man sich einmal vorstellen! Aber bitte, die leben ja immer so g’sund, die Religionslehrer. Kein Spaß an der Freud, dafür ein biblisches Alter, doppelt schwer geprüft quasi … Egal. Und jetzt spitzen S’ die Ohrwascheln: David Neumann. Das tragische Unglück war schlicht und ergreifend ein Selbstmord. Verstehen Sie? Umgebracht hat er sich, in die schöne blaue Donau ist er gegangen. Angeblich, weil sein Vater kurz davor gestorben ist und er’s nicht verwunden hat. Aber jetzt kommt’s: Wenn Sie den Jahresbericht grad bei der Hand haben, können S’ gleich noch ein schwarzes Kreuzerl hineinmalen. Felix Serner. Keine zwei Monate später, in den Sommerferien achtundsiebzig. Der Serner hat sich aufgehängt, drunt’ in der Lobau. Es soll auch zwei Abschiedsbriefe gegeben haben, wo die gelandet sind, weiß ich aber nicht. Vielleicht im Polizeiarchiv. Na, was sagen S’ jetzt? Der Iden-Club ist ordentlich dezimiert worden damals …»
Dem Lemming stockt der Atem.
«Moment! Was haben Sie da gesagt?»
«Wie, was? Ach so. Der Iden-Club. Mein Informant, der christliche Methusalem, hat gemeint, das war so eine Art Spitzname für die Grinzingerklasse, wahrscheinlich in Anlehnung an den Eden-Club, wissen S’ eh, hinter der Oper. Vielleicht haben ja die Buben dort manchmal Aktstudien betrieben oder so was …»
Der Lemming spürt, wie sich sein Puls erhöht, wie seine Knie weich werden. Er hört der Lehrerin nicht mehr zu. Er schlägt sich an die Stirn und ruft: «Ich Idiot! Das ist es! Das ist es! Sie sind ein Schatz, Frau Haberl! Das Licht in meiner finsteren Hirnöde!»
Er hat es gefunden, das Ende des roten Fadens.
Zweitausendvierundvierzig Jahre und knapp achtundvierzig Stunden ist es her. Da hat sich ein anderer alter Lateiner auf seinen letzten Weg gemacht. Es war in Rom, und es war gegen die Mittagszeit, als Gaius Julius Caesar in der Curie des Pompeius von den Dolchen seiner Feinde durchbohrt wurde. Eine tödliche Falle, ein Hinterhalt, geplant und durchgeführt am fünfzehnten März des Jahres vierundvierzig vor Christus. Der Iden-Club … Das kann kein Zufall sein. Dreizehn Uhr. Die Wohnung erbebt wieder unter dem Dröhnen der Presslufthämmer.
Dreizehn Uhr. Zwei Tage nach Grinzingers Ermordung, zwei Tage nach den Iden des März.
9
Es ist nur ein Körnchen Erinnerung.
Erinnerung an den Sumpf, an die schwere, stickige Luft, durchflirrt von Tausenden und Abertausenden Moskitos, Erinnerung an das unaufhörliche, ohrenbetäubende Kreischen und Flöten der Urwaldvögel, Erinnerung an Leguane und Schlangen im undurchdringlichen Blättergewirr. Grün – das ist die Farbe dieser Erinnerung.
Am Arsch der Welt war Janni gelandet, in Französisch-Guayana, dem Dschungelstaat nördlich Brasiliens. Kurz nach der Grundausbildung in Frankreich hatten sie Janni hierher versetzt, zum 3. Infanterieregiment der Fremdenlegion, und schon bei seiner Ankunft schien ihm der Name der Hauptstadt mehr als plausibel zu sein: Cayenne. Endlich da, wo der Pfeffer wächst, hatte er gedacht. Aber plötzlich hatte ein Donner den tiefblauen Himmel erschüttert, und ein Feuer speiendes Ungetüm war über dem Regenwald aufgestiegen, hatte sich brüllend seinen Weg durch die Luft gebahnt, dem Zenit entgegen, war zusehends leiser und kleiner geworden, um sich schließlich am Firmament zu verlieren. Ariane, eine Trägerrakete aus dem Raumfahrtzentrum Kourou, kaum vierzig Kilometer von Cayenne entfernt.
Ja, es war der Arsch der Welt und ebendeshalb ihr sinistrer Mittelpunkt. Hier geschah, was zu geschehen hatte, obwohl man es nicht sehen, nicht daran denken wollte. Hundert Jahre lang war das Land französische Strafkolonie gewesen, und gerade zehn Seemeilen trennten Kourou von den berüchtigten Îles du Salut, die als Ort barbarischer Grausamkeit Eingang in die Literaturgeschichte gefunden haben. Im Buch «Papillon» beschreibt Henri Charrière seine qualvolle Zeit auf der schrecklichsten, der so genannten Teufelsinsel, auf die auch schon Albert Dreyfus verbannt worden war. Charrière gelang die Flucht, Dreyfus wurde rehabilitiert, aber unzählige Häftlinge fanden hier
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