Der Fall des Lemming
dümmlichen, teils gelangweilten, teils übertrieben würdevollen Mienen. Zum anderen aber ist es ein schwarzer Balken, der ihm ins Auge springt, ein dicker schwarzer Balken, der das dreizehnte und letzte der Bilder umrahmt. Ernst ist das Gesicht auf dem Foto, griechisch beinahe, mit hoch liegenden Wangenknochen und kurzer, gerader Nase. Die Haare fallen bis auf die Schultern hinab; gewellt und von dunkler, leicht rötlicher Farbe, lassen sie die grünen Augen des Jungen noch heller erscheinen.
Tief erschüttert nehmen wir Abschied von unserem Freund, Schüler und Klassenkollegen David Neumann, den ein tragisches Unglück wenige Wochen vor Schulschluss aus unserer Mitte gerissen hat.
Wenn uns das Schicksal auch trennt,
so wollen im Herzen wir tragen
ewig den teueren Freund, immer in unserem Sinn.
Wir werden David Neumann nie vergessen.
Der Lemming schließt leise das Buch und die Augen.
Ein toter Schüler. Ein tragisches Unglück. Was für ein Unglück? Wie soll er die kryptische Andeutung der Lehrerin verstehen? Seit damals sind über zwanzig Jahre vergangen, wozu also dieser antiquarische Jahresbericht? Was um alles in der Welt soll das für eine Spur sein? Eine falsche, entscheidet der Lemming. Gar keine. Und schließlich: Welche Aussichten hat er denn überhaupt, diesen Fall zu lösen, den Wettlauf gegen Krotznig zu gewinnen, gegen einen Mann, der über Polizeimarke und Pistole verfügt, über Mitarbeiter und Dienstwagen und … ja genau, über ein Handy?
Krotznig braucht doch nur auf einen Knopf zu drücken, und der Polizeicomputer verrät ihm augenblicklich alles, was er wissen will, all jene Informationen, die der Lemming erst in tagelanger Kleinarbeit zusammenkratzen muss, falls er sie überhaupt beschaffen kann. Was, bitte, hat er für Chancen? Gar keine. Nicht die geringsten. Eine alte Nickelbrille, das ist sein einziger Vorteil, sein einziger Trumpf, so lächerlich wie ein Herzass beim Domino. Ein Unglück. Ein tragisches Unglück …
Das Telefon läutet. Der Lemming rafft sich auf, trottet ins Vorzimmer und nimmt den Hörer ab.
«Wallisch.»
Für einen Moment bleibt es still am anderen Ende der Leitung. Dann dringt ein Räuspern an das Ohr des Lemming, und endlich lässt sich eine zögerliche Stimme vernehmen. «Huber hier. Sie erinnern sich?»
Der Lemming stutzt. Huber, der Krimineser vom Kahlenberg, der anämische Partner, nein, der Fußabstreifer Krotznigs, die linke Studentenschwuchtel …
«Selbstverständlich. Was verschafft mir die Ehre?»
«Hören Sie … Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich das tu … Wenn er das wüsste …»
Er , denkt der Lemming, er … In einem Protokoll müsste man dieses Er großschreiben, so wie Huber es ausspricht. ER, dessen Namen du nicht nennen sollst. ER, der allmächtige Krotznig.
«Ich wollte einfach … ich wollte Sie warnen. Er ist … na, Sie kennen ihn ja. Aber diesmal …»
«Ja? Was diesmal?»
«Er hat vor einer halben Stunde mit der Schule telefoniert, mit der Direktion. Und die Sekretärin hat ihm von Ihrem Besuch erzählt … Hören Sie, ich hab ihn noch nie so wütend gesehen. Er wollte sofort zu Ihnen …»
«Und? Wo ist er jetzt?»
«Zwei Kollegen haben ihn zurückgehalten …»
«Aber wo ist er jetzt?»
Huber schweigt. Dann meint er leise: «Im Augenschein .»
Auf einmal kommt es dem Lemming so vor, als verberge sich zwischen Hubers stockenden Worten eine tiefere Bedeutung, als sei diese Warnung nur ein ungeschickter Vorwand, eine Hülle für etwas anderes, was ihm tatsächlich auf dem Herzen liegt. Hubers Stimme klingt weder sachlichkorrekt noch ängstlich-besorgt. Sie klingt einfach nur irgendwie … traurig. Der Lemming nimmt Witterung auf, aber er kann das Gefühl nicht benennen. Sein Eindruck bleibt vage, vorerst.
«Meinen Sie … Sollten wir uns treffen?»
«Ich weiß nicht recht …»
«Wissen Sie … Es ist sicher nicht gegen die Vorschriften, nach Dienstschluss auf ein Achterl zu gehen. Zum Plavaczek zum Beispiel, drüben im Liechtental. Also, ich werd heut Abend zufällig dort sein, alleine, so gegen – sagen wir – halb sieben. Die geröstete Leber beim Plavaczek ist wirklich zu empfehlen …»
«Mhm …»
«Jedenfalls vielen Dank für Ihren Anruf. Gut zu wissen, dass man sich auf die Polizei verlassen kann …»
«Natürlich … Dann also … Auf Wiederhören.»
Kaum hat der Lemming aufgelegt, klingelt es abermals. «Wallisch.»
«Hier spricht Geheimagentin Haberl vom
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