Der Fall des Lemming
den Tod, und ihre Leichen wurden den Haien zum Fraß vorgeworfen. Erst Mitte der fünfziger Jahre wurde die Kolonie aufgrund internationaler Proteste geschlossen. Les Îles du Salut – die Inseln des Heils: Das war wohl ein ähnlicher Hohn wie «Arbeit macht frei».
Janni wurde in Kourou stationiert, bei jener Abteilung des Regiments, die das Raumfahrtzentrum bewachte. Es war hart, die rauen Sitten der Söldner zu ertragen. Noch schlimmer aber war die schwüle Hitze, die auch von gelegentlichen sintflutartigen Regengüssen nicht gelindert wurde. Dazu kam, dass Janni täglichen Dienst in der Küche versah, wo sich Feuer und Dampf mit dem tropischen Klima verbanden, um es bis zur Unerträglichkeit zu steigern. Schon darum war er froh, eines Tages zum Lehrgang der Dschungelkampfschule im Osten des Landes abkommandiert zu werden.
Was er nicht wusste: Es war ein Schritt vom Regen in die Traufe, nein, von der Traufe in den Sturzbach, vom Sturzbach in die Sturmflut. Er fand sich schon bald als Darsteller wieder, in einem Kinofilm, den er sich lieber aus der sicheren zwölften Reihe angesehen hätte. Indiana Jones, das war es wohl, mit einem großen Unterschied: Der Ausgang des Abenteuers blieb ungewiss. Die auf der Leinwand ahnen nicht, was sie erwartet. «Demerdez! Demerdez!» Raus aus der Scheiße! Wütendes Bellen des Ausbildners, Schlamm, nichts als Schlamm, bis zu den Schultern, bis zum Hals, verkrustet das Gesicht, von Mücken zerstochen, und vor sich das Tier in den Ästen, gefleckt, zischend, vier Meter lang. Es war verboten, sie zu töten, die Boa Constrictor, fangen musste man sie, mit freier Hand fangen, ein kurzer, rascher Griff ins Genick, während sie einem entgegenzuckte, -fauchte, -schnappte. Dann die gefürchteten Hindernisbahnen, zehn glitschige Hürden, die es in kürzester Zeit zu überwinden galt, dazwischen der Sumpf, metertief. Am Abend wurde getrunken, um den Tag zu vergessen. Bester Wein aus der Provence, in einem südfranzösischen Château von invaliden Legionären gekeltert. Die Männer soffen bis zum Umfallen, und ihr babylonisches Stimmengewirr gipfelte Nacht für Nacht in wildem Gegröle.
An einem dieser Abende kam Janni neben Herbert zu sitzen. Herbert, ein Deutscher aus der Nähe von Hamburg, und er war stiller als die anderen. Es schien ihm dennoch gut zu tun, sich mit jemandem in seiner Muttersprache unterhalten zu können. Herbert war dreiundvierzig und schon seit vier Jahren bei der Fremdenlegion. Den Grund dafür nannte er nicht, zunächst. Erst als es rundum ruhiger zu werden begann und das allgemeine Gebrüll nach und nach in kollektives Schnarchen überging, zog er ein kleines Silberetui aus der Hosentasche, darin lag ein zerknittertes Foto. Hübsch, brünett, sehr jung, ein Mädchen.
«Mein Schatz», sagte Herbert mit Augen aus Glas. «Meine Tochter. Gerade fünfzehn war sie damals. Sie hat … Sie haben … Es waren mehrere. Ich habe sie selbst … in den Büschen gefunden. Man hatte sie … Und dann das Genick gebrochen … Die sind … Man hat sie nie gefasst …»
Am nächsten Morgen begann der härteste Teil der Ausbildung, das so genannte Überlebenstraining. Zu acht wurden sie im Urwald ausgesetzt, mit nichts anderem versehen als mit leeren Feldflaschen, Buschmessern und den obligaten Malariatabletten. Der Ausbildner verließ sie für die kommenden Tage, und es dauerte nicht lange, bis er den Männern fehlte; sein Gebrüll hatte all die fremden Geräusche des Dschungels übertönt, hatte ihnen ein wenig den Schrecken genommen. Herbert und Janni waren in einer Gruppe, sie arbeiteten mit- und nebeneinander, schlugen Bambus und knüpften Lianen, gruben Stöcke in die Erde. Die Schlafplätze mussten sie auf Pfählen bauen; zu groß war die Gefahr, dem Biss eines Skorpions, einer Schlange, einer giftigen Spinne zum Opfer zu fallen, auch die Stiefel waren abends verkehrt auf zwei Stangen zu stecken, damit der Tod nicht hineinkriechen konnte. Der Tod. Er lauerte überall. An nächtliche Ruhe war nicht zu denken; da herrschte ein ständiges Rascheln und Knistern, nur unterbrochen vom dumpfen Gepolter herabstürzender Äste.
Es geschah am dritten Tag. Janni war eben dabei, das provisorische Dach über den Pritschen zu reparieren, als ein Schrei durch das Lager gellte. Mit schlagbereiten Macheten liefen die Männer zusammen, und dann sahen sie Herbert, wie er neben der Feuerstelle stand, zitternd vor Wut, mit offenem Mund und roten, blutunterlaufenen Augen. Er hielt sein
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